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Ehrenhüter

Ehrenhüter

Titel: Ehrenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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Sie schienen völlig unterschiedlich in ihrer Art zu denken und zu fühlen. Besma Cetin kam ihm in den Sinn. Sie war als Analphabetin nach Deutschland gekommen. Trotzdem oder gerade deshalb hatte Bildung für sie einen unschätzbaren Wert. Eine Haltung, die vor allem ihre älteste Tochter übernommen hatte. Nilgüns Lebensweg war vorgezeichnet gewesen. Sie hätte vermutlich ebenso sicher studiert, wie Murat als Gemüsehändler enden würde. Aber er schien im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder sanft und feinfühlig. Petersen hatte ihm erzählt, dass Murat seit längerem mit einem deutschen Mädchen zusammen war. Doch hatte sie nicht ebenfalls erwähnt, dass auch Murat regelmäßig die Moschee besuchte? Wie passte dazu seine Beziehung mit einer Andersgläubigen?
    Steenhoff legte noch ein Scheit nach. Die Flammen verbreiteten eine behagliche Wärme. ‹Diese Familie ist voller Widersprüche›, dachte er. Osman war in Bremen geboren. Während der Junge für sich selbst dieselben Freiheiten beanspruchte wie seine deutschen Freunde, auf Partys gingund rauchte, sollten sich seine Schwestern von ihren Freundinnen in der Schule klar unterscheiden. Für Osman war es klar, dass seine Schwestern keinen Tanzkurs besuchten und im Sommer nicht in kurzen Röcken und enganliegenden T-Shirts zur Schule gingen. Und die Mädchen hatten es akzeptiert oder zumindest so getan als ob. Saliha konnte er nur schwer einschätzen. Er hatte das Mädchen unter Schock erlebt. Am klarsten erschien ihm noch Kemal Cetin. Der Mann war in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen. Als er nach Deutschland zog, hatte sich nicht viel an seinem Leben geändert. Wie zu Hause hatte seine Familie auch in Deutschland mit Gemüse gehandelt. Nur dass sie es in Deutschland überwiegend vom Großmarkt bezogen, anstatt es mühsam selbst anzubauen. Sein Weltbild war in Schwarz und Weiß aufgeteilt. Entscheidungen trafen die Männer, zumindest alle wichtigen. Kemal Cetin, so schätzte Steenhoff, hatte keine Zweifel an dieser Ordnung, die das Leben seiner Familie seit jeher bestimmte. Wenn seine Religion ihm in Alltagsfragen nicht weiterhalf, konnte er sich auf die Traditionen verlassen. Wer in seiner Familie die Gesetze überschritt, riskierte seinen Zorn oder körperliche Züchtigung.
    Kemal Cetin wirkte auf Steenhoff wie ein Mann, der keine Selbstzweifel kannte. Nilgün hatte die Gesetze so stark verletzt, dass sie nicht mehr dazugehörte. Daran gab es für Kemal Cetin nichts zu rütteln. Er hatte seine tote Tochter aus der Familie verbannt. Niemand durfte mehr ihren Namen nennen.
    Kemal Cetin war Steenhoff zuwider. Der Mann wirkte kalt und unberührbar. Steenhoff traute ihm alles zu. Selbst den Mord an seiner eigenen Tochter. Doch warum dieser Ort? Warum hätte sich Kemal Cetin die Mühe machen sollen, den Leichnam im Norden Bremens hinter einem ehemaligen U-Boot -Bunker abzulegen? Wenige Meter neben dem Fundort, an dem die junge Kurdin vor Jahren gelegen hatte. Galt der Platz womöglich als Ort der Strafe für ungehorsame Töchter? Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Er nahm sich vor, ihn mit den anderen am Nachmittag zu diskutieren.
    «Du hast schon den Ofen angemacht?»
    Steenhoff drehte sich um. Hinter ihm stand Ira. Er hatte sie nicht die Treppe hinuntergehen hören. Sie wickelte ihren dünnen Morgenmantel um ihren schlanken Körper und hockte sich auf die Sessellehne. «Du denkst schon wieder über deinen neuen Fall nach», stellte Ira messerscharf fest und sah ihn besorgt an.
    «Nein, ich genieße die Ruhe und das Feuer», log Steenhoff.
    Aber Ira konnte er so leicht nicht täuschen. «Schön wär’s. Vermutlich konntest du nicht schlafen, weil die Mosaikteilchen in deinem Fall nicht zusammenpassen.»
    Einen Moment lang keimte Ärger in Steenhoff auf. Er wollte sich nicht dafür rechtfertigen, dass ihn der gewaltsame Tod eines Mädchens jede Minute beschäftigte.
    Aber Ira war in Gedanken schon wieder woanders. Sie zeigte auf den Holzkorb. «Da du ja sowieso den Rest des Sonntags im Büro verbringen wirst, habe ich mich heute Nachmittag mit Katrin zum Holzhacken verabredet. Sie hat einen Verwandten, der gerade zwei Bäume in seinem Garten umgehauen hat.»
    Steenhoff sah sie entsetzt an. «Ihr wollt Holz hacken? Mit unserer großen Axt?»
    Ira klang belustigt. «Mit der Laubsäge könnte es etwas zu lange dauern   …»
    «Aber wir haben das Holz doch immer gekauft. Ist dochauch viel praktischer.» Vergeblich versuchte er, seinen besorgten Unterton zu

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