Ehrensache
Jack. Er wusste, wie ihre Freunde und ihre
Kritiker über sie dachten. Aber er wusste nichts von ihr. Außer dass sie, nach ihren
Freunden und ihrem Geschmack bezüglich Möbel zu urteilen, nicht viel Geschmack gehabt
hatte...
Donnerstagmorgen. Eine Woche war vergangen, seitdem die Leiche gefunden worden war.
Er wachte früh auf, hatte aber keine Eile aufzustehen, sondern ließ sich diesmal den Tee von Mrs.
Wilkie ans Bett bringen. Sie war am Abend ganz klar gewesen und hatte ihn nicht ein einziges Mal
für ihren längst verstorbenen Mann oder ihren wiedergefundenen Sohn gehalten. Also hatte sie es
nicht verdient, aus seinem Zimmer ausgesperrt zu werden. Heute Morgen gab es nicht nur Tee,
sondern auch Ingwerplätzchen. Und der Tee war heiß. Dafür war das Wetter kühl, immer noch grau
und regnerisch. Aber das machte nichts. Er würde in die Zivilisation zurückkehren, sobald er noch
an einem Ort seine Aufwartung gemacht hatte.
Er beeilte sich mit dem Frühstück und bekam zum Abschied von Mrs. Wilkie einen Kuss auf die
Wange.
»Komm doch irgendwann mal wieder«, rief sie, während sie ihm von der Tür hinterher winkte. »Ich
hoffe, die Marmelade verkauft sich gut...«
Der Regen wurde plötzlich heftiger, und genau in dem Moment setzten seine Scheibenwischer aus. Er
hielt an, um einen Blick auf die Karte zu werfen, dann stürzte er nach draußen, um mal kurz an
den Wischern zu rütteln. Das war schon häufiger passiert. Sie blieben einfach stecken, und mit
ein bisschen Gewalt kriegte man sie wieder in Gang.
Doch diesmal hatten sie offenbar völlig den Geist aufgegeben. Und keine Tankstelle in Sicht. Also
fuhr er ganz langsam und stellte nach einer Weile fest, je heftiger der Regen wurde, desto klarer
wurde seine Windschutzscheibe. Der langsame, feine Regen war das Problem, weil er nur
verschwommene Formen und Umrisse erkennen ließ. Die dicken, schweren Regentropfen kamen und
gingen so schnell, dass sie die Windschutzscheibe eher zu reinigen schienen und für klaren
Durchblick sorgten.
Das war auch gut so, denn der Regen blieb auf der ganzen Strecke nach Duthil so heftig.
Das Duthil Special Hospital war als Vorzeigeobjekt für die Behandlung von geisteskranken
Kriminellen konzipiert und gebaut worden. Wie auch die anderen »Spezialkliniken« überall auf den
britischen Inseln war es nichts weiter als das, was der Name besagte - ein Krankenhaus. Es war
kein Gefängnis, und die Patienten, die in seine Obhut gegeben wurden, wurden wie Patienten
behandelt, nicht wie Gefangene. Behandeln, nicht bestrafen, war die Aufgabe, und die Klinik
verfügte nicht nur über neue Gebäude, sondern setzte auch moderne Methoden und Kenntnisse
ein.
All das erzählte der medizinische Direktor des Krankenhauses, Dr. Frank Forster, Rebus in seinem
angenehmen, aber zweckmäßig eingerichteten Büro. Rebus hatte gestern Abend lange mit Patience
telefoniert, und sie hatte ihm so ziemlich das Gleiche erzählt. Ist ja gut und schön, dachte
Rebus, aber trotzdem war es ein Ort, wo Menschen in Gewahrsam genommen wurden. Die Leute, die
hierher kamen, kamen auf unbefristete Zeit, hatten keine »Haftstrafe« abzusitzen. Das Haupttor
wurde elektronisch betätigt und von Wächtern bewacht, und überall, wo Rebus bisher hingegangen
war, waren die Türen hinter ihm wieder verschlossen worden. Doch nun sprach Dr. Forster über
Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Mitarbeitern und
Patienten, die allwöchentliche Disco...
Er war offensichtlich stolz auf sein Haus. Und er übertrieb ganz offensichtlich. Rebus
durchschaute ihn sofort. Er war sozusagen das Aushängeschild. Seine Aufgabe war es, die Vorzüge
dieser Spezialklinik der Öffentlichkeit bekannt zu machen, die fürsorgliche Einstellung und den
enormen Stellenwert der Therapie. Anstalten wie Broadmoor waren in den letzten Jahren stark in
die Kritik geraten, und um Kritik zu vermeiden, brauchte man eine gute PR. Und Dr. Forster sah
wie ein guter PR-Mann aus. Zunächst einmal war er jung, etliche Jahre jünger als Rebus. Außerdem
hatte er ein gesundes und gepflegtes Aussehen und immer ein Lächeln auf den Lippen.
Er erinnerte Rebus an Gregor Jack. Der gleiche Enthusiasmus und die gleiche Energie. Das gleiche
öffentliche Image. Früher hatte Rebus so etwas nur mit amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen
assoziiert; heutzutage fand man es überall. Sogar in den Irrenhäusern.
Nicht die Irren hatten die Macht
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