Ehrensachen
Wind aus den Segeln? Allerdings kam mir auch der Gedanke, daß Henry die Gelegenheit für dieses besondere Bekenntnis eigens herbeigeführt hatte. In gewisser Hinsicht eine dramaturgische Leistung, könnte man sagen. Als Archie ihn nach seiner Geschichte ausfragte, hatte er die Auskunft, er sei Jude, jedenfalls vermieden. Seine einsilbigen Antworten hatten ihm erlaubt, eine direkte Lüge zu umgehen, aber was war seine Absicht dabei gewesen?
Der einzige Jude, den ich seit langem und, wie ich meinte, auch gut kannte, war unser Zahnarzt in Pittsfield, ein netter Mann, der sich seit meiner ersten Karies um meine Zähne kümmerte und mir nie weh getan oder angst gemacht hatte. Er hatte in seinem Behandlungszimmer ein großes, gut bevölkertes Aquarium so geschickt aufgestellt, daß man die Fische beobachten konnte, während er bohrte, und ich glaube, von einem bestimmten Zeitpunkt an war ich so interessiert an ihnen, daß ich mich auf die Zahnbehandlungen freute. Die jüdische Familie, der das große Kaufhaus in Pittsfield gehörte, war mir dem Namen nach genau bekannt. Zwei der Enkelkinder, beide ein paar Jahre jünger als ich, waren in dieselbe Tagesschule in Lenox gegangen wie ich. Meine Eltern kannten die Eltern oder Großeltern dieser Kinder nicht, wahrscheinlich, weil sie nicht Mitgliederim Country Club waren. Aber selbst wenn sie, wie meine Eltern, im Club gewesen wären, hätten meine Mutter und mein Vater wohl trotzdem den respektvollen Abstand zu ihnen gehalten, den sie gewöhnlich gegenüber allen deutlich reicheren oder eindrucksvolleren Mitgliedern wahrten, zu denen sie keine persönliche Verbindung hatten. Es wäre an den Kaufmanns gewesen, den ersten Schritt zu tun. Im Boston Symphony Orchestra, das im Sommer Konzerte in Tanglewood gab, spielten jüdische Musiker, aber ich hatte keine Gelegenheit gehabt, einen von ihnen kennenzulernen. In der Bank arbeiteten, soweit ich wußte, keine Juden. In meinem Internat dagegen waren Juden gut etabliert. Wir hatten etliche New Yorker Juden – elegante und reiche – als Mitschüler, die bekanntesten kamen aus einer Bankiersfamilie. Angehörige dieser Familie waren schon seit den zwanziger Jahren in diese Schule gegangen, und die Krankenstation wie auch das Haus für die Naturwissenschaften trugen ihren Namen. Zufällig war in meiner Klasse kein von Stein gewesen, und wahrscheinlich war ich deshalb der einzige aus dem Jahrgang, der es in dieses College geschafft hatte. Laut Schullegende hatte jeder von Stein die Garantie auf einen Platz in Harvard.
Über ein Jahr lang war der Film Tabu der Gerechten die Hauptquelle meiner Informationen über Juden und ihre Probleme gewesen. Meine Mutter, die keinen Film mit Gregory Peck ausließ, hatte mich in den Schulferien in ein Kino in Pittsfield mitgenommen. Mein Vater ging nie ins Kino. Am Tag danach lieh ich mir im Buchclub von Womrath’s den Roman aus, der die Grundlage für das Drehbuch war. Wie die Juden behandelt wurden, wie praktisch alle Leute sich als Feiglinge entpuppten, sobald der von Peck gespielte Mann ihnen erzählte, er sei Jude, das fand ich abscheulich. Aus Gründen, die nichts mit Juden zu tun hatten, war ich neidisch auf Gregory Peck, weil seine schlichte, liebevolleund mutige Film-Mutter genau die Art Mutter war, die ich gern gehabt hätte, und auf den kleinen Jungen war ich neidisch, weil ich mir einen Vater wie Gregory Peck wünschte. Ich fragte meine Mutter, ob Juden wirklich so gedemütigt würden. Sie sagte, sie habe keine persönliche Erfahrung mit Juden. Dann, im zweiten Semester meines letzten Schuljahrs, behandelten wir in Zeitgeschichte die Ermordung der Juden durch die Deutschen während des Krieges. Der Geschichtslehrer, Mr. Ticknor, zeigte uns im Unterricht ein Buch mit Fotos, die amerikanische Soldaten nach der Befreiung in Konzentrationslagern gemacht, und solchen, die deutsche Soldaten im Warschauer Ghetto und an anderen Orten in Polen und Rußland aufgenommen hatten. Das kann nicht meine erste Ahnung von diesen Dingen gewesen sein. Aber was ich in Zeitschriften gelesen und in Gesprächsfetzen gehört hatte, war offenbar ohne nachhaltige Wirkung geblieben. Nach Mr. Ticknors Unterrichtsstunde mußte ich ihm recht geben, daß die schlechte Behandlung amerikanischer Juden durch Amerikaner eine Schande war. So wie er es darstellte, waren die Deutschen nur deshalb fähig gewesen, die Ausrottung der Juden in Europa in Angriff zu nehmen, weil sie und die einheimische Bevölkerung in den besetzten
Weitere Kostenlose Bücher