Ehrensachen
Eltern, Schwestern und Brüder – und Freunde, alte Freunde,mit denen sie zusammensein und reden können. Oder sie haben Jobs. Meine Mutter hat nichts dergleichen. Von ihrer Familie sind alle außer meinem Vater und mir tot. Alle umgebracht. Einen Job hat sie nicht, weil sie nichts kann, sagt sie. Niemand hat je damit gerechnet, daß sie eine Arbeit annehmen wollte, also hat sie keine Ausbildung. Übrigens nehme ich ihr das nicht ab. Wenn sie wirklich lernen wollte, etwas Nützliches zu tun, könnte sie es auch jetzt noch, aber das würde bedeuten, einen Fehlschlag zu riskieren, und dieses Risiko wird sie nicht eingehen. Mein Vater arbeitet den ganzen Tag lang hart, und er ist nicht gerade ein Ausbund von Heiterkeit. Die Folge: Ich bin das einzige Hobby meiner Mutter. Ich bin auch ein willkommener Grund zum Gezänk mit meinem Vater: Deine Schuld, daß er so geworden ist; nein, deine, das hat er von dir gelernt, nein, das kommt von den Jahren, die er nur mit dir zusammen war, nein, tut mir leid, er ist das Abbild deines Vaters, und immer so weiter. Sicher, sie können sich auch über mich streiten, wenn ich in Cambridge bin, aber ohne mich haben sie kein Publikum. Und vergiß nicht, wenn ich die Beherrschung verliere, wird der Krach spannend wie ein Weltmeisterschaftskampf. Als er dann noch hinzufügte, versteh nicht falsch, was ich gesagt habe, sie lieben mich, und ich liebe sie − konnte ich ihm nicht mehr folgen.
Ich unterdrückte ein Lächeln und sagte ihm, daß das ganz sicher richtig sei.
Wieder schwiegen wir längere Zeit, und danach sagte er: Schau mal, das Elternhaus verlassen, heißt das nicht, den Gott der Väter verlassen? Meine Mutter hat sich auf die metaphorische Bedeutung meiner Tat kapriziert. Brillant, oder? Unbegrenzt lange können sie mir nicht vorwerfen, daß ich sie verlassen habe, um aufs beste College im Land zu gehen, das weiß sogar sie, und deshalb hat sie meine Übeltat, das Verlassen der Eltern, auf eine höhere Ebenegeschoben. Mein Vater gibt ihr recht. Jetzt sagen sie, in Wahrheit hätte ich mein Elternhaus aufgegeben, um kein Jude mehr sein zu müssen oder um jedenfalls als Nichtjude durchzugehen; und das kann ich nicht schaffen, wenn sie in der Nähe sind. Damit mir diese Verleugnung meiner jüdischen Herkunft gelingt, müsse ich also meine Eltern aus meinem Leben ausschließen. Eine erschreckende Interpretation, aber sie halten sie wirklich für richtig. − Er sah, daß mir die Augen vor Müdigkeit zufielen, und sagte: Es tut mir leid, daß ich dir mit meinem Gerede ein Ohr abgekaut habe. Ehrlich gesagt, habe ich mit dem Thema nur angefangen, um dir erzählen zu können, daß ich dich beneide. Ich wünschte, meine Eltern würden mich in Ruhe lassen. Warum können sie nicht sein wie deine Eltern? Was wäre daran verkehrt? Dir hat es doch nicht geschadet.
Ich gab ihm keine Antwort auf seine Frage. Ich begriff, daß meine Eltern, selbst wenn man ihre Eigenarten beiseite ließ, in seinen Augen eine fremde Spezies sein mußten. Genauso wie mein Verständnis seiner Lebensumstände anscheinend sehr begrenzt war. Es hat keine Eile, dachte ich, er wird noch viel Zeit haben, mich und meinesgleichen kennenzulernen. Besonders, wenn unsere Freundschaft bestehen bleibt. Allmählich meinte ich, dahin könne es kommen. Also sagte ich gute Nacht, und wir gingen schlafen.
Die Frage, ob Henry Jude sei, hatten Archie und ich mehr als einmal erörtert – ohne Ergebnis. Archie meinte wie ich, die Tatsache, daß die Familie während des Krieges in Polen gewesen sei, spreche dagegen. Wir glaubten beide, daß die Deutschen alle polnischen Juden umgebracht hatten. Der Name White gab keinen Anhaltspunkt, er mußte geändert sein. Aber wie hatte er vorher gelautet? Wir waren uns auch einig, daß Henry nicht wie ein Jude aussah. Andererseits kam er aus Brooklyn, und da wohnten alle New YorkerJuden, sagte Archie. Blieb zu bedenken, daß Henry mit den drei uns bekannten Juden im Wohnheim nicht freundlicher umging als mit anderen Studenten. Laut Archie hatte das nichts zu bedeuten. Oder man konnte es als Zeichen dafür nehmen, daß Henry als Nichtjude durchgehen wollte. Damals war mir Archies Schluß vernünftig vorgekommen. Jetzt hatte Henry mich jedoch überzeugt, daß er nicht versuchte, mich irrezuführen, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß er mit Archie weniger offen reden würde, wenn sich eine Möglichkeit dafür ergab. Nahm das der Theorie, daß er als Nichtjude durchgehen wollte, nicht den
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