Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
Vom Netzwerk:
bereitgestellt worden. Ein Redaktionsassistent in meinem französischen Verlag, der als Spezialist im Umgang mit dieser neuen Technik galt, führte mehrere Suchen durch, um Henrys Namen allmählich einzukreisen, falls er auf irgendeiner Liste in Frankreich stand. Endlich machte ich während eines längeren Parisaufenthaltes die Telefonnummer von Henrys ehemaliger Sekretärin ausfindig, die nicht mehr für Wiggins arbeitete; ich verabredete mich auf einen Drink mit ihr und versuchte, ihr irgendeinen Hinweis über Henry und seinen Aufenthaltsort während seiner damaligen Inkognito-Abwesenheiten zu entlocken. Sie versicherte mir mit offenkundiger Ehrlichkeit, daß sie nichts wisse. Er war sehr diskret, der Monsieur White, sagte sie, sehr diskret.
    Ein anderer Weg zu Henry führte womöglich über Margot. Mein Verleger wußte nicht, wo sie sich aufhielt, bezweifelte aber, daß sie noch in Frankreich war. Jean du Roc hatte wie viele andere französische Schriftsteller auf der Suche nach einem Steuerparadies das Land verlassen. Irland war für freie Künstler besonders geeignet. Ich fand heraus, daß County Clare sein neuer Wohnsitz war. Ich schrieb und telefonierte. Er war weder bereit, mich zu sehen, noch mir zu sagen, wo ich Margot finden könne. Aufgeben wollte ich nicht, also versuchte ich mein Glück mit dem Radcliff-Alumnae-Büro, erfuhr aber nur, was ich eigentlich hätte wissen müssen: daß dieses Büro nicht mehr existierte, sondern Teil der Harvard-Verwaltung geworden war. Eine Anfrage dort ergab wieder nichts.
    Wenn ich mit George sprach, hatten Henrys Schweigen, sein Schicksal und Georges oder meine jüngsten Versuche, mit ihm Kontakt aufzunehmen, Vorrang vor allen anderen Gesprächsthemen. Aber es gab nichts zu berichten, es sei denn, daß die einzeilig geschriebenen Briefe, die eine bemerkenswerte Kenntnis meiner literarischen Produktion zeigten und jedesmal nach der Veröffentlichung eines neuen Romans bei mir eintrafen, vielleicht von ihm waren. Unterschrieben waren sie mit einem unleserlichen Anfangsbuchstaben, sie hatten keinen Absender und trugen einen Pariser Poststempel. In der Regel hoffen Leser, die sich die Mühe machen, dem Autor einen wohlüberlegten Brief zu schreiben, auf Antwort. Dies waren die einzigen praktisch anonymen Fanbriefe, die ich je bekommen hatte. Eine Anomalie, die mich auf den Gedanken brachte, daß sie von Henry kamen.

XXXIV
    Dabei blieb es viele Jahre lang, in deren Verlauf ich allmählich dazu überging, fern von New York zu leben, zeitweise in Venedig und zeitweise, um der Hitze und den Touristen des venezianischen Sommers zu entfliehen, in den Berkshires. Dann entschied ich mich aus mehreren Gründen, vor allem jedoch wegen der säuerlichen anti-amerikanischen Stimmung, die in Europa grassierte, seit George W. Bush zum Präsidenten gewählt worden war, jedes Jahr im Winter wieder in New York zu wohnen. Aus Trägheit oder vielleicht weil ich einen Instinkt für den Wert guter Immobilien besaß, hatte ich meine Bleibe in der East 70 th Street nie aufgegeben. Noch lebte ich ziemlich improvisiert aus Koffern, da rief Edie an, um mich zu einer Überraschungsparty für George einzuladen, der siebzig wurde. Die Geburtstagsfeier werde in ihrem Club stattfinden; denn ehe sie sich’s versah, habe sie mehr Gäste eingeladen, als sie bequem zu Hause beköstigen könne. Sie baute darauf, daß ich eine Rede hielt.
    Das Fest erwies sich als eine Ansammlung von vielen Gästen, die mir zuerst fremd vorkamen. Aber mit Edies Hilfe konnte ich nach und nach eine Anzahl von Gesichtern Leuten zuordnen, die ich früher einmal gekannt hatte, manche auf dem College und manche in der Zeit, als George zuerst Mitarbeiter und dann Juniorpartner in seiner Kanzlei geworden und er und Edie ein strahlendes junges Paar waren. Eine Frau erkannte ich ohne Mühe: Peggy O’Neill – jetzt Mrs. Gordon Lattimore, wie ich erfuhr. Wir hatten zusammen in Renato Poggiolis unvergeßlichem Kurs über die Symbolisten gesessen; damals war ich im dritten Jahr am Harvard und sie im vierten am Radcliffe-College gewesen. Sie sagte, sie habe mir ein Willkommensgeschenk mitgebracht, Edie habe ihr nämlich erzählt, daß ich wieder in New York sei und zur Party kommen würde. Das Geschenk steckte in einem großen braunen Umschlag, auf dem stand: »Nicht knicken – erst zu Hause öffnen.«
    Ruf mich morgen an, wenn du es dir angesehen hast, sagte sie.
    Ich kam spät nach Hause. In dem Umschlag war eine grobkörnige

Weitere Kostenlose Bücher