Ehrensachen
Schwarzweißvergrößerung eines Schnappschusses, auf dem eine Gruppe junger Leute sich im Heck eines Schiffes, wahrscheinlich einer Art Ausflugsdampfer, in Positur gestellt hatte. Eine junge Frau mit einer Kreissäge auf dem Kopf hielt ein Sektglas in der Hand und führte anscheinend einen Tanzschritt vor. Links von ihr hob ein junger Mann sein Glas, um einen Toast auszubringen. Die Uferlinie war verschwommen, aber ich meinte, den Charles zu erkennen, östlich der Harvard Bridge, dort, wo das Flußbett verbreitert worden ist. An der Seite waren kleine Segelboote zu erkennen, die alle derselben Klasse angehörten, also vielleicht gerade an einer Regatta teilnahmen. Von den Feiernden an Deck konnte ich keinen erkennen, obwohl ich mir das Foto mit einem Vergrößerungsglas ansah.
Ich rief Peggy an und bekannte, daß ich vor einem Rätsel stand.
Aber es ist ein tolles Bild von Henry White unmittelbar vor der Abschlußfeier, sagte sie kläglich. Ich dachte, du wärst begeistert. Deshalb wollte ich es dir geben.
Henry, fragte ich, wo siehst du ihn?
Er ist der Mann im Profil, der einen Toast ausbringt. Und neben ihm, mit der Hand auf Henrys Schulter, steht der arme Archie.
Plötzlich war ich sehr traurig. Es hätte mir unmöglich sein sollen, ihn nicht zu erkennen. Ich fragte, ob sie das tanzende Mädchen sei.
Was für eine alberne Idee, sagte sie lachend. So schön waren meine Beine nie. Ich glaube sogar, das Mädchen war gar nicht am Radcliffe. Ich muß irgendwo im Hintergrund sein. Komisch ist, daß ich Margot nicht finden kann. Gerade sie hätte unbedingt dabeisein müssen.
Wenn das Foto wirklich ganz zum Schluß von Henrys College-Zeit gemacht wurde, dann konnte sie nicht dabeisein, sagte ich. Sie war ein oder zwei Monate vorher aus Cambridge weggegangen.
Ach, stimmt ja, sagte Peggy, als ich sie an die näheren Umstände erinnerte. Das hatte ich ganz vergessen. Aber du bist auf dem Bild, hinter Henry.
Wieder hatte sie recht. Sie erzählte mir, daß sie den Schnappschuß in einem Schuhkarton mit Fotos gefunden hatte, die es nie bis in eines ihrer Alben geschafft hatten, und bestätigte meine Vermutung: Wir waren mit einem Charterboot auf dem Charles unterwegs gewesen. Wir hatten vorgehabt, Harvards Rudermannschaft anzufeuern; deshalb war auch George nicht auf dem Bild. Er mußte im Harvard-Achter am Ruder sitzen. Peggy meinte, Archie sei einer der Gastgeber gewesen, und das klang plausibel; die Party hatte ganz den Stil, den er und seine feierlustigen Latino-Freunde kultivierten.
Dann erzählte Peggy mir, wie ihr jüngerer Sohn, der Kustos der Abteilung Fotografie im Kunstmuseum Philadelphia, den Schnappschuß eingescannt, im Computer gereinigt und schärfer fokussiert und das bearbeitete Bild vergrößert hatte. Ist es nicht außergewöhnlich? fragte sie.
Es war außergewöhnlich, und nicht nur, weil es durch die Arbeit ihres Sohnes entrückt und weltfern wirkte, so daß es mich an Satellitenaufnahmen des Erdballs erinnerte, sondern auch aus einem persönlichen Grund, über den ich nicht mit Peggy reden wollte. Dieses Foto bezeugte sichtbar und objektiv den Höhepunkt von Henrys eindrucksvoller erster Verwandlung in einen eleganten charmanten jungen Mann,der sich auf dem Fluß angenehm die Zeit vertreibt und in der Gesellschaft der Jeunesse dorée anscheinend vollkommen zu Hause fühlt. Außerdem rief es mir sein Verschwinden schmerzhaft in Erinnerung.
Gewiß bis ans Ende der achtziger Jahre hatte ich viel an Henry gedacht, zweifellos auch deshalb, weil ich, zwar in Abständen, aber manchmal fast zwanghaft versucht hatte, ihn zu finden. Doch allmählich gab ich mich geschlagen, zuerst, ohne es mir selbst einzugestehen. Außer den Fanbriefen, die immer noch eintrafen, gab es keinen Grund zu glauben, daß er am Leben war, und keinen Grund anzunehmen, daß er nicht mehr lebte. Georges Anwaltsfirma wußte entweder wirklich nichts oder behauptete es nur und hielt alle Informationen, die sie vielleicht besaß, vor George geheim. Ich dachte immer seltener an Henry und wenn, dann mit jener Art von Pietät, die sich in Metaphern ausdrückt – vernachlässigte Gräber, Leichen unbeerdigter Männer ohne Freunde und so weiter. Nichts ist beruhigender. Man murmelt diesen oder jenen Vers vor sich hin, prompt besetzt das Zitat den Platz der Erinnerung, und wieder einmal sind die bleichen Gespenster der Toten gebannt. Aber Peggys Foto hatte mir einen Schock versetzt, der ebenso heftig wie rechtzeitig war. Ich war fest
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