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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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sagten, sie würden lieber zu Fuß gehen. Wir bildeten zwei Paare. Ich begleitete Mrs. White, die meinen Arm nahm, bevor ich daran dachte, ihn ihr zu bieten. Mr. White und Henry gingen hinter uns.
    Rysiek hat wirklich Glück, sagte sie. Er weiß gar nicht, wie viel Glück.
    Wer ist das? fragte ich.
    Wer Rysiek ist? fragte sie zurück. Rysiek ist Rysiek.
    Als sie merkte, daß ich nicht begriff, wovon sie redete, drückte sie meinen Arm und erklärte mir, daß dies Henrys kleiner Name sei. Wie hieß kleiner Name auf englisch? Ich schlug »Diminutiv« vor. Sie sprach mir das Wort nach und suchte und fand die lateinische Wurzel.
    Henry heißt auf polnisch Henryk, erklärte sie, so wie Henryk Sienkiewicz, der Autor von Quo Vadis?. Aus Henryk wird Henrysiek, und das kürzt man ab zu Rysiek. So macht man es im Polnischen. Wir verwenden Diminutive. Mein Vater zum Beispiel hieß Jakob, aber seine Familie und seine Freunde nannten ihn Kuba.
    Als ich dazu ansetzte, nach Mr. Whites und ihrem Vornamen zu fragen, fiel sie mir ins Wort und erkundigte sich nach meinen Eltern. Sie hoffe, es gehe ihnen gut. Ich versicherte, sie fühlten sich wohl, worauf sie wissen wollte, ob meine Eltern mich oft besuchten. Ohne eine Antwort abzuwarten, betonte sie noch einmal, Rysiek habe wirklich Glück, aber warum er so viel trinken müsse? Weder sein Vater noch sie tränken Alkohol, höchstens vielleicht ein Glas Wein zum Essen, wenn sie ausgingen oder Gäste hätten. Ich sagte, daß Henry trinke, könne ich mir nicht denken, aber sie widersprach mir entschieden. Hierauf schilderte sie zum erstenmal ihre Begegnung mit der Bierleiche ihres Sohnes in der Lobby des Hotels. Sie an seiner Stelle wäre krank vor Sorgen wegen der Verspätung der Eltern gewesen und hätte sich gefragt, ob das Auto liegengeblieben war oder ob sie – so wie sein Vater Auto fährt – etwa einen Unfall gehabt hatten.
    Die Vorstellung, daß Henry in der Lobby des Hotels umgekippt war, fand ich genauso befremdlich wie Mrs. Whites Verdacht, er sei mitten am Nachmittag volltrunken gewesen, aber dann fiel mir wieder ein, was er mir am Vormittag erzählt hatte: daß er in der Nacht davor überhaupt nicht geschlafen hatte, weil er eine Hausarbeit über Perikles’ Grabrede schreiben mußte; um sich wach zu halten, hatte er eine Aufputschpille nach der anderen geschluckt, bis er gegen Morgen merkte, daß er die Seiten, die er schon aus der Schreibmaschine gezogen, zerknüllt und auf den Boden geworfen hatte, immer wieder durchkaute. Ich bot Mrs. White die Erklärung an, daß Henry einen Abgabetermin einhalten mußte; die Pillen erwähnte ich nicht.
    Was soll er in der Nacht einen Aufsatz schreiben, statt zu schlafen? konterte sie. Normale Menschen arbeiten am Tag, und nachts schlafen sie.
    Wieder verteidigte ich Henry. Er arbeite hart, sagte ich, noch nie hätte ich jemanden so hart arbeiten sehen, dasliege an den schwierigen Latein- und Griechischseminaren und dem Intensivkurs für Französisch. Obgleich ich wußte, daß sie in jedem Einzelfall erfuhr, welche Note er für mündliche Prüfungen und Hausarbeiten bekommen hatte, betonte ich, daß er ein bemerkenswert guter Student sei.
    Und Sie, Herr Mitbewohner, sagte sie, sind Sie auch im College, um Latein und Griechisch zu lernen?
    Ich erwiderte, in der Schule hätte ich alles Latein gelernt, das ich wissen wollte. Mein Hauptfach sei Englisch.
    Englisch. Sie lachte. Und dabei dachte ich, daß Sie die Sprache schon perfekt sprechen.
    Ich lachte mit ihr.
    Damit war das Thema meiner intellektuellen Entwicklung erst einmal erschöpft, und sie fing wieder von dem Problem an, das sie offensichtlich quälte. Warum denkt Rysiek, er muß Altphilologie studieren? fragte sie. Dann ließ sie sich darüber aus, daß sie in Polen alles verloren hätten, daß sie und ihr Mann schwer arbeiteten, um Henry ein gutes Zuhause und eine gute Schulbildung zu verschaffen, daß Henry an seine Zukunft denken sollte, anstatt seine Chancen einfach wegzuwerfen.
    Mir fiel keine passende Antwort ein, also schwieg ich und konzentrierte mich auf Mrs. White. Sie sah gut aus – nein, ehrlich gesagt, war sie schön und sexy. Seltsam, aber wahr, daß die Mutter eines Mitbewohners einen solchen Eindruck auf mich machte. Für mich war sie wie eine Lana Turner mit kohlschwarzem Haar. Den feuerroten Haarschopf hatte Henry von seinem Vater geerbt. Bereits im Hotel war mir ihr Wollkostüm aufgefallen, das einen helleren Braunton hatte als der üppig und weit

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