Ehrensachen
Schuld gibt. War je ein Jude im Recht? Dann sprach sie mich an und fragte, ob ich als ein fairer Mensch nicht ihre Meinung teile, daß Cohn und Schine Opfer des Antisemitismus seien.
Nun war ich überzeugt, daß Cohn und Schine Wassermassen auf die Mühlen der Antisemiten leiteten, aber ich wagte nicht, Mrs. White dies ins Gesicht zu sagen. Statt dessen erklärte ich ihr, außer den reaktionären Dummköpfen, die von McCarthy hypnotisiert waren, seien sich nach meinem Eindruck ziemlich alle einig darin, daß diese beiden schrecklich seien, aber das habe nichts damit zu tun, daß sie Juden waren. Kaum hatte ich es gesagt, war mir klar, daß ich damit Mr. White und vielleicht Mrs. White ebenfalls gekränkt hatte, da es so wirken mußte, als würde ich auch sie für Dummköpfe halten, aber wie ich den Schaden wiedergutmachen konnte, wußte ich nicht, und so sagte ich gar nichts mehr. Das mag die richtige Entscheidung gewesensein. Mrs. White sagte, viele anständige Nichtjuden hätten die Augen zugemacht, wenn Juden mißbraucht oder ermordet wurden, und sie hoffe, ich werde die Augen offenhalten, denn sie wisse, ich sei ein anständiger Mensch und ihrem Henry ein guter Freund. Damit ließ sie das Thema fallen.
Nachdem sie Henrys und mein Angebot, das Geschirr abzuräumen, abgelehnt hatte, servierte Mrs. White uns am Eßtisch Kaffee und Plätzchen, die sie selbst gebacken hatte, während der Käsekuchen aus einer Konditorei stammte, und stellte eine Schachtel gefüllte Pralinen dazu. Sie hatte beobachtet, wie begeistert ich ihrem Essen zusprach, und richtete nun das Wort an mich: Herr Mitbewohner Autor, sagte sie, wovon handelt Ihr Buch?
Diese Frage hatte ich erwartet. Sie kam immer wieder von Leuten, die wußten, daß der Atlantic eine Zeitschrift war, und die gehört hatten, daß ein Auszug aus meinem Roman dort veröffentlicht werden würde. Diesmal war sie mir besonders unangenehm, weil ich immer noch nicht wußte, ob Henry seinen Eltern von meinem Zusammenbruch oder von New Orleans erzählt hatte. Womöglich wollte Mrs. White gern Näheres über den Zusammenhang zwischen dem Roman und meiner Krankheit erfahren, ein Thema, das ich nicht bereit war zu erörtern. Ich hätte mir eine Antwort zurechtlegen sollen, hatte es aber nicht getan, deshalb sagte ich ihr, da ich noch an dem Buch arbeiten müsse und da das Ende kilometerweit entfernt sei, wisse ich nicht genau, wie es ausgehen werde.
Aber Sie müssen doch wissen, worüber Sie schreiben, sagte Mr. White, der plötzlich interessiert schien. Oder setzen Sie sich jeden Tag an die Schreibmaschine und warten auf Inspiration? Schreiben Sie eigentlich mit der Maschine?
Das bejahte ich. Da ich kaum abstreiten konnte, daß mir ungefähr vorschwebte, was ich zu Papier bringen wollte, sagte ich, es sei die Geschichte eines Jungen, der in einerkleinen Stadt nicht weit von meinem eigenen Wohnort aufwachse.
Dann schreiben Sie über sich und Ihre Familie, sagte Mrs. White.
Nicht wirklich, erklärte ich ihr. Der Junge in meinem Buch hat eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Ich bin ein Einzelkind. Das ist ein Unterschied. Es gibt noch viele andere. Die Städte gleichen sich wie alle alten Kleinstädte in Neuengland.
Ich denke, Ihre Eltern werden sich in Ihrem Roman wiedererkennen, entgegnete sie. Ob ihnen das gefällt?
Ich gab zu, daß mir das Sorgen machte. Ob Mrs. White und ihr Gatte nun zufrieden waren oder ob sie nur festgestellt hatten, daß es Zeit für die Fernsehnachrichten war, sie wünschte mir jedenfalls viel Glück und daß meine Eltern stolz auf mich seien. Unterdessen hatte Henry das Kinoprogramm studiert. Er sagte, er habe eine Spätvorstellung von La Ronde , dem Reigen, gefunden, der Film werde im Kino an der Flatbush Avenue gezeigt; ob ich Lust hätte, hinzugehen? Ich hatte es eilig, aus diesem Eßzimmer herauszukommen, und sagte sofort ja. Mrs. White erhob Einwände: Viele Seitenstraßen seien nicht geräumt, und vereiste Fahrbahnen seien gefährlich. Du wirst einen Unfall im Auto deines Mitbewohners haben, und was dann? Außerdem mußt du müde sein, und du könntest dich ausnahmsweise einmal ausruhen. Er teilte ihr mit, wir würden ins Kino gehen, aber zu Fuß.
Am nächsten Tag war Heiligabend. Aber die Praxis von Henrys Zahnarzt war geöffnet wie an normalen Werktagen, und Henry ging hin, um sich vier provisorische Füllungen ersetzen zu lassen. Er schlug mir vor, Archies Auto zu nehmen, wenn ich nach Manhattan wolle. Oder ich könne zur
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