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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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tränenüberströmt in die Arme. Er merkte, Jenny brauchte Trost und liebevolle Worte, auf keinen Fall durfte er die Situation jetzt ausnutzen.
    Max tätschelte ihr den Rücken und sprach leise auf sie ein. »Schwester Kriemhild war schließlich nicht mehr die Jüngste«, sagte er, aber das war offensichtlich der falsche Ansatz.
    »Mitte fünfzig!«, schluchzte Jenny. »Das ist doch kein Alter zum Sterben! Sie war bei allen Patienten beliebt, sie hatte ein kleines Enkelkind, das sie jeden Tag vom Kindergarten abholte. Vor ein paar Jahren ist Kriemhilds Mann gestorben, jetzt hatte sie gerade einen neuen kennengelernt...«
    Es war klar, Jenny war eine Romantikerin und hatte nahe am Wasser gebaut. Max lief neben ihr die Treppe hinauf und erzählte, dass sein Vater im Krankenhaus lag. Das hatte sie bereits von ihrer Kollegin erfahren. Sie ließ sich zum Glück durch fremdes Leid vom eigenen ablenken und freute sich riesig, als Max ihr das Buch zu dem Film schenkte, den sie miteinander gesehen hatten.
    »Zur Erinnerung an unseren gemeinsamen Kinoabend«, hatte er auf die erste Seite des Romans geschrieben und damit voll ins Schwarze getroffen.

    Der Psychiater war etwas ratlos, als Harald heftig abstritt, suizidale Absichten gehabt zu haben.
    »Vielleicht unbewusst?«, fragte er.
    Harald musste trotz seines unfrohen Zustandes etwas lächeln.
    »Man sollte nicht immer nach abartigen Gründen suchen, wenn es sich um ein Missgeschick handelt«, sagte er. »Ich nehme gelegentlich ein paar sedierende Tropfen, weil ich seit einiger Zeit unter Schlafstörungen leide. Bisher habe ich mich immer an die niedrigste Dosis gehalten, denn ich muss schließlich am nächsten Tag fit sein. Doch diesmal habe ich den Löffel nicht finden können und kurzerhand einen Schluck aus der Flasche genommen ...«
    Der Psychiater ließ nicht locker. Schließlich erzählte Harald von seinen Problemen - die Frau habe nur ihr Geschäft im Kopf, koche immer liebloser und höre ihm gar nicht mehr zu. Im Beruf werde er angefeindet, die Kinder seien missraten, der alte Vater eine Last.
    »Haben Sie schon einmal an die Möglichkeit einer Psychotherapie gedacht?«, fragte der Arzt. »Oder zumindest an Entspannungsübungen zum Stressabbau?«
    »Ist doch alles Humbug«, sagte Harald abwehrend. »Und wenn mich mein übereifriger Sohn nicht gleich ins Krankenhaus geschickt hätte, wäre ich über kurz oder lang von alleine wieder aufgewacht!«
    »Das weiß man nicht«, sagte der Arzt. »Ihr Sohn hat das einzig Richtige getan. Sie sollten ihm dankbar sein und ihn nicht als missraten bezeichnen.«
    Als Harald wieder allein war, dachte er - wie schon oft - über seinen Sohn nach. Max brauchte relativ viel Geld, niemand wusste so recht, wofür er es ausgab. Drogen? War der Junge vielleicht deswegen so unmotiviert, weil er in einer anderen Welt lebte? Andererseits versorgte er den Alten gut, leider allzu gut ... Am nächsten Tag sollte Harald entlassen werden. Er beschloss, sich bei Max zu bedanken und ihn ausnahmsweise einmal zu loben.
    Je deutlicher Haralds Erinnerung einsetzte, desto klarer wurde ihm, dass ihn der Alte ausgetrickst hatte. Ob er wohl die böse Absicht geahnt hatte, als er die Gläser vertauschte? Und ob er am Ende auch argwöhnte, dass es einen Zusammenhang zwischen Schwester Kriemhilds Unfall und dem kürzlich verschmähten Cognac gab? Harald musste sich etwas Neues ausdenken.

9

    Als Jenny und Max das Zimmer betraten, war das Bett des Alten leer, er selbst wie vom Erdboden verschluckt.
    »Um Gottes willen!«, rief Max. »Er ist wieder verwirrt. Weiß der Teufel, wo er steckt!«
    Schließlich entdeckten sie ihn im Schlafzimmer, wo er vor dem Elternbett auf dem Boden lag, neben ihm der umgekippte Rollator.
    »Herr Knobel, sind Sie verletzt?«, fragte Jenny und griff mit beiden Armen unter seine Achseln. Gemeinsam mit Max hatte sie ihn schnell hochgezogen und erst einmal auf die Bettkante gesetzt.
    Der Alte knurrte nur und schien sich etwas zu schämen.
    »Das dürfen Sie nie wieder machen«, sagte Jenny eindringlich. »Es muss immer jemand von uns dabei sein, wenn Sie laufen wollen!«
    »Aber Ilse hat mich doch gerufen! Außerdem kann ich nicht bloß im Bett oder auf dem Klo sitzen«, polterte der Alte. »Ich möchte den rosa Sessel wiederhaben! Max, du musst ihn holen! Und hat die Kleine etwa wegen mir geheult?«
    »Nein, Opa, nicht wegen dir. Schwester Kriemhild ist tot.«
    Jenny warf Max einen vorwurfsvollen Blick zu.
    »Der liebe Gott hat sie

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