Ehrenwort
eingeschenkt hatte als ihm. Halbvergessener Groll stieg wieder hoch. Kurz entschlossen vertauschte er die beiden Gläser, und damit es nicht auffiel, trank er das andere in einem Zug leer.
Als Harald die Läden mühsam zugezogen hatte und wieder ins Zimmer trat, sah er mit einem Blick, dass sein Vater den Cognac bereits hinuntergekippt hatte. Bravo, dachte er, und tat es ihm erleichtert nach.
Petra war etwas verwundert, als ihr Mann gar nicht mehr im Wohnzimmer auftauchte, obwohl er sich einen spannenden Krimi selten entgehen ließ. Als sie anderthalb Stunden später ins Schlafzimmer trottete, lag er bereits im Bett und schlief. Sonst hatte er seine Kleider immer sehr korrekt auf einen Stuhl gelegt und das Sakko auf einen Bügel gehängt - diesmal lag alles verstreut auf dem Boden herum, so wie es die Kinder in ihrer Teenagerzeit zu tun pflegten. Seufzend sammelte sie Stück für Stück wieder auf. Ihr Mann schien in letzter Zeit stark zu altern, das geschah ja meistens in Schüben.
Am nächsten Morgen lag er immer noch in der gleichen Position neben ihr, obwohl er im Allgemeinen als Erster das Bad benutzte. Petra schubste ihn ein wenig.
»Aufstehen, Harald, du bist spät dran!«
Er rührte sich nicht. Petra fühlte seine Stirn, Fieber schien er zwar nicht zu haben, aber irgendetwas stimmte nicht. Dann entdeckte sie das Fläschchen mit dem Schlafmittel. Wahrscheinlich hatte Harald die gewohnte Dosis erhöht, dachte sie ärgerlich, was machen wir jetzt? Sie beschloss, erst einmal selbst ins Bad zu gehen und sich für die Arbeit fertigzumachen.
Als sie nach einer halben Stunde erneut ans Ehebett trat, hatte sich die Situation nicht im Geringsten geändert. Petra hatte wenig Lust, ihren Mann mit drastischen Mitteln zum Aufstehen zu bewegen. Wenn er sich benahm wie ein pflichtvergessener Halbstarker, dann sollte er eben weiterschlafen und sehen, welche Entschuldigung ihm einfiele. Petra hatte vor allem Kaffeedurst und ging in die Küche, wo Max gerade das Frühstück für seinen Opa zubereitete.
»Dein Vater gefällt mir nicht«, sagte Petra.
»Warum hast du ihn dann geheiratet?«, fragte Max.
»Vielleicht ist er krank, aber wahrscheinlich hat er zu viel Schlafmittel genommen, ich kann ihn überhaupt nicht wachkriegen. Allerdings muss ich jetzt weg und kann mich nicht um alles kümmern. Wärst du so nett und schaust später noch mal nach...«
Max versprach es, widmete sich aber erst einmal dem Großvater. Er sollte nämlich mit dem Frühstück fertig sein, wenn die Pflegerin kam und die Zähne geputzt wurden.
Elena kam früh. Meistens machte sie ein paar burschikose Scherze, um der Situation das Peinliche oder gar Demütigende zu nehmen.
»Pipi oder Kacki?«, fragte sie auch heute. Es klappte leider noch nicht so, wie es sich der Patient erhoffte. Während Willy Knobel auf dem Klostuhl saß - wobei er keine Gesellschaft duldete -, ließ die Pflegerin Wasser in die Badewanne laufen, und Max begab sich ins elterliche Schlafzimmer.
»Papa«, sagte er und rüttelte seinen Vater an der Schulter, »bist du krank oder was?«
Keine Reaktion. Der Atem war kaum wahrnehmbar. Max fühlte den Puls, den er nur ganz schwach tasten konnte.
Allmählich wurde ihm die Sache unheimlich, und er rannte ins Badezimmer.
»Elena, kommen Sie bitte mal mit«, sagte er aufgeregt. »Mein Vater ist völlig weggetreten.«
Die Pflegerin folgte, machte sich ein Bild der Lage, griff zum Handy und rief den Notarzt an.
»Papa muss in Krankenhaus. Vielleicht soll man Magen auspumpe und so«, sagte sie. »Kann ich nicht mache, bin kein Dottore.«
Sie lagerte ihn auf die Seite und packte ihm zusätzlich Petras Bettdecke bis übers Ohr.
»Immer schön warm halte! Pass gut auf und bleib hier«, sagte sie zu Max. »Ich geh' jetzt zu Opa und mache fertig. Ambulanza kommt gleich.«
An der Seite des bewusstlosen Vaters kamen Max recht trübe Gedanken - wie, wenn nun sein Papa vor dem Opa stürbe? In diesem Moment hörte er Elena im Badezimmer kreischen - weil das Wasser übergelaufen war - und von der Straße die Sirene des Krankenwagens.
Als Max seine Mutter telefonisch erreicht hatte, geriet sie völlig aus der Fassung, überließ ihren Laden den Angestellten und brauste zum Krankenhaus. Dort wurde sie von einem Arzt abgefangen und nach den Medikamenten befragt, die ihr Mann regelmäßig einzunehmen pflege. Ob er depressiv sei? Es sehe alles nach einem Suizidversuch aus, der Patient sei jedoch nicht in Lebensgefahr. Nein, sie könne ihn
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