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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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diesen nichtitalienischen Teil der Juden auszuliefern; statt dessen kamen die staatenlosen und ausländischen Juden in italienische Lager, wo sie völlig sicher waren, bis die Deutschen das Land besetzten. Dieses Verhalten läßt sich kaum aus den objektiven Verhältnissen allein – dem Fehlen einer »Judenfrage« – erklären, denn natürlich schufen diese Ausländer in Italien das gleiche Problem wie in jedem europäischen Nationalstaat, der auf die ethnische und kulturelle Homogenität seiner Bevölkerung gegründet ist. Was in Dänemark das Ergebnis eines echten Sinnes für Politik war, eines anerzogenen Verständnisses für die Voraussetzungen und die Verpflichtungen, die Bürgertum und Unabhängigkeit garantieren, das war in Italien Ausfluß einer fast automatisch gewordenen, alle Schichten erfassenden Humanität eines alten und zivilisierten Volkes.
    Die Humanität der Italiener hielt auch den Prüfungen des Terrors stand, der in den letzten anderthalb Jahren des Krieges über das Volk hereinbrach. Im Dezember 1943 richtete das deutsche Auswärtige Amt ein formelles Ersuchen um Unterstützung an Eichmanns Chef Müller: »Bei dem in den letzten Monaten gezeigten mangelnden Eifer italienischer Dienststellen zur Durchführung der vom Duce empfohlenen antijüdischen Maßnahmen hält es das Auswärtige Amt für dringend wünschenswert, daß die Durchführung der Maßnahmen gegen die Juden nunmehr laufend von deutschen Beamten überwacht wird.« Daraufhin wurden berüchtigte Judenmörder, wie etwa Odilo Globocnik von den Todeslagern bei Lublin, eilends von Polen nach Italien beordert; sogar die Leitung der Militärverwaltung wurde nicht einem Wehrmachtsoffizier übertragen, sondern dem ehemaligen Gouverneur Galiziens, SS-Gruppenführer Otto Wächter. Jetzt war es aus mit Spott und listigen Streichen. Eichmanns Büro verschickte an all seine Nebenstellen ein Rundschreiben, daß »Juden italienischer Staatsangehörigkeit« umgehend den »notwendigen Maßnahmen« zu unterziehen seien; der erste Schlag war gegen die 8000 Juden in Rom geplant, die von deutschen Polizeiregimentern verhaftet werden sollten, da die italienische Polizei nicht zuverlässig war. Sie wurden rechtzeitig gewarnt, oft von alten Faschisten, und 7000 entkamen. Die Deutschen gaben, wie üblich, wenn sie auf Widerstand trafen, nach und erklärten sich jetzt damit einverstanden, daß italienische Juden, einschließlich der Nichtprivilegierten, nicht deportiert, sondern lediglich in italienischen Lagern konzentriert würden; für Italien wollte man diese »Lösung« als zureichend »endgültig« ansehen. Ungefähr 35 000 Juden wurden in Norditalien ergriffen und nahe der österreichischen Grenze in Lager gebracht. Als im Frühjahr 1944 die Rote Armee Rumänien besetzt hatte und die Alliierten vor Rom standen, brachen die Deutschen ihre Zusagen und begannen mit dem Abtransport von Juden aus Italien nach Auschwitz. Von den rund 7500 Betroffenen sind nicht mehr als 600 zurückgekommen. Trotz allem waren das wesentlich weniger als 10 Prozent aller Juden, die damals in Italien lebten.

XI Die Deportation aus den Balkanstaaten: Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland und Rumänien
    Liest man die Anklageschrift und sieht dann, wie die Urteilsbegründung in 244 Paragraphen Ordnung in das verwirrende und verwirrte »Gesamtbild« des Staatsanwalts bringt, so stellt man schließlich mit Überraschung fest, daß in keinem der beiden Dokumente der doch offenbare Unterschied zwischen dem Judentum Ost- und Südosteuropas, das zumeist als Minderheit anerkannt war, und den Juden in mittel- und westeuropäischen Nationalstaaten, die seit Generationen assimiliert und emanzipiert waren, auch nur erwähnt ist. Der von der Ostsee im Norden bis zur Adria im Süden reichende Streifen gemischter Bevölkerungen, ein heute zum größten Teil jenseits des Eisernen Vorhangs liegendes Gebiet, setzte sich damals aus den sogenannten Nachfolgestaaten zusammen, die nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten geschaffen worden waren. Den zahlreichen Volksgruppen, die jahrhundertelang unter imperialen Herrschaftsverhältnissen gelebt hatten – unter dem russischen Zarenreich im Norden, der Österreichisch-Ungarischen Donaumonarchie im Süden und dem türkischen Sultanat im Südosten –, war damit eine neue politische Ordnung gewährt worden. Keiner der neu entstandenen Nationalstaaten besaß auch nur annähernd die ethnische Homogenität der alten europäischen Nationen, die als

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