Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Modell für ihre politischen Verfassungen dienten. In jedem dieser Staaten gab es große Volksgruppen, die ihre eigenen nationalen Bestrebungen zugunsten eines nur wenig zahlreicheren Nachbarvolkes hatten aufgeben müssen und deshalb dem neuen Staat äußerst feindselig gegenüberstanden. Hätte es noch eines Beweises dafür bedurft, wie gefährdet diese neue Ordnung in der Tat war, so wurde er im März 1939 geliefert, als Hitler in Prag einmarschierte und ihm nicht nur die Sudetendeutschen zujubelten, sondern auch die Slowaken in ihm den Befreier von tschechischer Knechtschaft sahen; sie erhielten denn auch sofort ihren eigenen »unabhängigen« Staat. Genau das gleiche ereignete sich später in Jugoslawien, wo die serbische Majorität, das Staatsvolk des Landes, als Feind behandelt wurde und die kroatische Minderheit ihren eigenen nationalen Staat erhielt. Hinzu kam noch, daß die Bevölkerung in diesen Ländern seit Jahrhunderten nicht mehr bodenständig gewesen war, so daß eindeutige natürliche oder historische Grenzen nicht existierten – die bestehenden Grenzen, niedergelegt in den Verträgen von Trianon und St. Germain, waren mehr oder minderwillkürlich. So konnten Ungarn, Rumänien und Bulgarien durch großzügige Annexionen auf Kosten ihrer Nachbarn als Achsenpartner gewonnen werden, was zur Folge hatte, daß alle diese Länder erhebliche neue Judenkontingente miterwarben, denen sie die Staatsbürgerschaft verweigerten. So wurde ein beträchtlicher Prozentsatz des Ostjudentums automatisch staatenlos und erlitt nun das gleiche Schicksal wie die Flüchtlinge in Westeuropa – sie wurden unweigerlich als erste deportiert und liquidiert.
Der Zusammenbruch des ost- und südeuropäischen Staatensystems besagte natürlich, daß das kunstreiche System der Minderheitenverträge, mit dem die Alliierten vergeblich gehofft hatten, ein Problem zu lösen, das im politischen Rahmen des Nationalstaats eben unlösbar ist, ebenfalls zugrunde ging. Die Juden waren in allen Nachfolgestaaten eine offiziell anerkannte Minderheit, und dieser Status war ihnen nicht etwa aufgezwungen worden, sondern das Resultat von Verhandlungen ihrer eigenen Delegierten, die auf der Friedenskonferenz in Versailles entsprechende Anträge gestellt und ausgehandelt hatten. Daß hier zum ersten Male die westlichen, assimilierten Juden nicht als Sprecher für das ganze jüdische Volk auftraten, war ein wichtiger Wendepunkt in der jüdischen Geschichte gewesen. Mit Überraschung und oft mit Bestürzung hatten die westlich erzogenen jüdischen »Notahlen« feststellen müssen, daß die große Mehrheit des Volkes wenn auch keine politische, so doch eine weitgehende soziale und kulturelle Autonomie verlangte. Rechtlich glich der Status der osteuropäischen Juden dem jeder anderen Minderheit, politisch jedoch – und das sollte entscheidend werden – waren sie die einzigen »Heimatlosen« in diesem Völkergemisch, nämlich das einzige Volk, das nirgends die Majorität der Bevölkerung bildete. Sie waren, wie man damals sagte, die Minderheit par excellence – überall eine Minorität und nirgends eine Mehrheit. Immerhin lebten sie hier in festen Siedlungen zusammen, unvergleichlich weniger »zerstreut« als die Juden West- und Mitteleuropas; und wenn die assimilierten Juden es allgemein als Zeichen von Antisemitismus empfanden, wenn man sie als Juden bezeichnete, wurden osteuropäische Juden von Freund und Feind gleichermaßen als Glieder einer bestimmten Volksgruppe anerkannt und angesprochen. Diese allgemeinen, durch Verträge gesicherten Bedingungen für das Volk im ganzen konnten nicht ohne Einfluß auf die Lage derjenigen Juden bleiben, die nun wirklich, trotz aller Minderheitenverträge, assimiliert waren, das heißt von der ihnen als Juden zustehenden religiösen und kulturellen Autonomie keinen Gebrauch machten. Sie bildeten eine Gruppe, die sich von dem westlichen Judentum, wo die Assimilation die Regel und nicht die Ausnahme war, ganz erheblich unterschied. Das für westliche Verhältnisse so charakteristische mittlere jüdische Bürgertum gab es im Osten so gut wie überhaupt nicht; statt dessen fand sich dort eine dünne Schicht großbürgerlicher Familien, die durch Taufe und Mischehe sehr viel assimilierter war als die Masse des westlichen Judentums und die vor allem sehr viel engere Beziehungen zu den eigentlich herrschenden Schichten unterhielt.
KROATIEN mit Zagreb als Hauptstadt auf jugoslawischem Territorium gehörte zu den ersten
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