Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
Vom Netzwerk:
vernünftigste zu sein, und mit Hilfe der dänischen Fischereiflotte ist das auch gelungen. Die Überfahrt der mittellosen Juden – der Preis betrug ca. 100 Dollar pro Person – wurde weitgehend von wohlhabenden dänischen Bürgern bezahlt, und das war vielleicht das bezeichnendste Faktum dieser verkehrten Welt überhaupt; denn dies war die Zeit, in der Juden ihre eigene Deportation finanzieren mußten, in der die Reichen Vermögen bezahlten für Ausreisegenehmigungen (in Holland, in der Slowakei und später in Ungarn), sei es durch Bestechung einheimischer Beamter, sei es durch »legale« Geschäfte mit der SS, die nur harte Währung nahm (in Holland z. B. hielten sich Ausreisepapiere in der Preislage zwischen 5000 und 10 000 Dollar). Selbst in Ländern, wo die Juden auf echte Sympathien und aufrechte Hilfsbereitschaft stießen, mußten sie dafür bezahlen – für arme Leute war die Chance des Entkommens gleich null.
    Es dauerte fast den ganzen Oktober, bis all die Juden über die fünf bis fünfzehn Seemeilen gebracht waren, die Dänemark von Schweden trennen. Die Schweden nahmen 5919 Flüchtlinge auf, von denen wenigstens 1000 deutscher Herkunft waren. 1310 waren Halbjuden, und 686 waren mit Juden verheiratete Nichtjuden. (Fast die Hälfte der dänischen Juden scheint im Lande geblieben zu sein und den Krieg im Versteck überlebt zu haben.) Die nichtdänischen Juden waren besser dran als vorher, denn sie bekamen alle Arbeitserlaubnis. Die wenigen hundert Juden, die die deutsche Polizei hatte verhaften können, wurden nach Theresienstadt gebracht. Es waren alte oder arme Leute, die entweder die Nachricht nicht rechtzeitig bekommen oder ihre Bedeutung nicht richtig verstanden hatten. Im Getto genossen sie größere Privilegien als irgendeine andere Gruppe wegen des ewigen »Getues«, das dänische Behörden und Privatpersonen ihretwegen machten. 48 Personen starben, eine angesichts des Durchschnittsalters dieser Gruppe nicht ungewöhnlich hohe Zahl. Rückblickend faßte Eichmann seine Meinung dahingehend zusammen, »daß das danebengegangen ist aus irgendeinem Grund« und daß es »sich ja eigentlich gar nicht gelohnt« habe, all die Schwierigkeiten für rund 7000 Juden! – während der merkwürdige Dr. Best erklärte, daß »das Ziel der Operation nicht die Festnahme einer großen Anzahl von Juden war, sondern die Säuberung Dänemarks von Juden, und dieses Ziel ist jetzt erreicht«.
    Politisch und psychologisch ist der interessanteste Aspekt dieser ganzen Geschichte wohl das merkwürdige Doppelspiel der Nazibehörden in Dänemark, die ganz offenbar die Befehle aus Berlin sabotierten. Dieses einzige uns bekannte Beispiel von offenem Widerstand einer Bevölkerung scheint zu zeigen, daß die Nazis, die solchem Widerstand begegneten, nicht nur opportunistisch nachgaben, sondern gewissermaßen ihre Meinung änderten: unter Umständen haben offenbar auch sie die Ausrottung eines ganzen Volkes nicht mehr so selbstverständlich gefunden. Sie waren auf prinzipiellen Widerstand gestoßen, und ihre »Härte« schmolz wie Butter an der Sonne – sie brachten sogar schüchterne Anfänge echten Mutes auf. Daß das Ideal der »Härte« – wenn auch nicht das der Rücksichtslosigkeit –, von ein paar halbirren Rohlingen abgesehen, nichts weiter war als die Lebenslüge, hinter der sich ein hemmungsloses Bedürfnis nach Konformität um jeden Preis verbarg, trat aufs deutlichste in den Nürnberger Prozessen zutage, wo die Angeklagten einander beschuldigten und verrieten und der Welt versicherten, daß sie »immer dagegen gewesen« seien, oder – wie später Eichmann – behaupteten, ihre besten Eigenschaften seien von ihren Vorgesetzten »mißbraucht« worden. (»Ich klage die Regierenden an, daß sie meinen Gehorsam mißbraucht haben«, sagte Eichmann in Jerusalem, und ein andermal erklärte er: »Bei einer guten Staatsführung hat der Untergebene Glück, bei einer schlechten Unglück. Ich hatte kein Glück.«) In der völlig veränderten Atmosphäre nach dem Ende des Krieges besaß nicht einer von ihnen den Schneid, die nationalsozialistische Weltanschauung zu verteidigen, obgleich fast jeder sich darüber klar sein mußte, daß er für sich selbst nichts zu hoffen hatte. Werner Best behauptete, er habe ein kompliziertes Doppelspiel gespielt, und es sei ihm zu danken gewesen, daß die dänischen Behörden vor der bevorstehenden Katastrophe gewarnt wurden –, dokumentarisch konnte nur das Gegenteil bewiesen werden,

Weitere Kostenlose Bücher