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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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während der 75. Sitzung, am 20. Juni, in den Zeugenstand und befragte ihn fast ununterbrochen 14 Sitzungen hindurch, bis zum 7. Juli. Am selben Tag, während der 88. Sitzung, begann das Kreuzverhör durch den Staatsanwalt, das weitere 17 Sessionen, bis zum 20. Juli, dauerte. Es gab ein paar Zwischenfälle. Eichmann drohte einmal, er werde »alles bekennen« à la Moskau – und ein andermal beklagte er sich: »Ich habe das Gefühl, daß ich hier so lange gebraten werde, bis das Rumpsteak eben gar ist«, aber für gewöhnlich war er eher ruhig, und wenn er gelegentlich androhte, er würde keine weiteren Fragen beantworten, so war ihm das nicht ernst. Zu Richter Halevi sagte er: »Ich bin sogar froh, daß das Kreuzverhör so lange gedauert hat. Wenigstens habe ich die Gelegenheit gehabt, hier die Wahrheit von der Unwahrheit, die sich durch 15 Jahre auf mich ablud, zu scheiden«, und er drückte auch seinen Stolz darüber aus, Gegenstand »des längsten Kreuzverhörs, das überhaupt bekannt ist«, geworden zu sein. Nach einem kurzen Rückverhör durch den Anwalt, das weniger als eine Sitzung in Anspruch nahm, begann das Kreuzverhör durch die Richter, und diese bekamen in zweieinhalb kurzen Sitzungen mehr aus ihm heraus, als die Anklage in 17 Sitzungen hatte zutage fördern können.
    Eichmann befand sich vom 20. Juni bis zum 24. Juli im Zeugenstand, also insgesamt 33½ Sitzungen hindurch. In fast doppelt so vielen Sitzungen, nämlich 62 von insgesamt 121, hatte man einhundert Belastungszeugen angehört, die für ein Land Europas nach dem anderen über das Grauen der »Endlösung« berichteten. Das hatte vom 24. April bis zum 12. Juni gedauert, die ganze dazwischenliegende Zeit wurde mit der Vorlage von Dokumenten ausgefüllt, die der Generalstaatsanwalt zum größten Teil verlas, um sie in das Gerichtsprotokoll zu geben, das täglich an die Presse ausgehändigt wurde. Bis auf einige wenige waren alle Zeugen israelische Bürger, die man aus Hunderten und aber Hunderten von Bewerbern ausgesucht hatte, und 90 von ihnen waren Überlebende im eigentlichen Wortsinn, sie hatten den Krieg auf die eine oder andere Weise in den von den Nazis beherrschten Gebieten überstanden. Wieviel klüger wäre es gewesen, sich dieser Art von Druck ganz, und nicht nur teilweise, zu entziehen – immerhin ist keiner der potentiellen Zeugen, die Quentin Reynolds in seinem »Minister of Death«, einem 1960 auf Grund von Material zweier israelischer Journalisten veröffentlichten Buch, genannt hat, je in den Zeugenstand gerufen worden – und nach Menschen zu suchen, die sich nicht freiwillig anboten! Dann wäre uns z. B. das Erscheinen jenes auf beiden Seiten des Atlantik unter dem Namen K-Zetnik bekannten Schriftstellers erspart geblieben, dessen Bücher über Auschwitz sich mit Bordellen, Homosexuellen und anderen »human interest stories« befassen. Er begann wie in einer Massenversammlung seinen angenommenen Namen zu erläutern. Das sei nicht etwa ein Schriftstellerpseudonym, erklärte er. »Ich muß diesen Namen so lange tragen, wie die Welt nicht endlich zu dem Bewußtsein erwacht, daß dieses Volk gekreuzigt wurde … so wie sich die Menschheit einst erhoben hat, als ein einziger Mann gekreuzigt wurde.« Er fuhr mit einem kleinen Exkurs in die Astrologie fort: »Der Stern, der unser Schicksal auf die gleiche Weise beeinflußt wie der Aschestern von Auschwitz, steht in Konjunktur zu unserem Planeten, er strahlt auf unseren Planeten ein.« Als er schließlich bei »der übernatürlichen Macht über die Natur« angelangt war, »die ihn bis hierher erhalten« habe, und eine Pause einlegte, um Atem zu holen, war es sogar Herrn Hausner klar, daß es so nicht weitergehen dürfe, und er unterbrach ihn sehr behutsam und sehr höflich: »Darf ich, wenn Sie gestatten, einige Fragen an Sie richten?« Woraufhin der vorsitzende Richter ebenfalls seinen Augenblick für gekommen ansah: »Herr Dinoor, bitte, bitte hören Sie Herrn Hausner an und hören Sie mich an.« Woraufhin der unterbrochene Zeuge, offenbar tief beleidigt, in Ohnmacht fiel, so daß weitere Fragen sich erübrigten.
    Dies war nun gewiß die Ausnahme, welche die Regel der Normalität der meisten anderen Zeugen bestätigte, was aber nicht heißt, daß die Gabe, Geschehenes einfach wiederzugeben, bei ihnen die Regel gewesen wäre, ganz zu schweigen von der seltenen Fähigkeit, Ereignisse, die 16 oder gar 20 Jahre zurückliegen, von dem zu trennen, was man in der Zwischenzeit gelesen,

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