Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
jedoch niemals vor Gericht gestellt wurde. (Gerüchte wollen wissen, daß er den Krieg überlebt habe – was ein fast exemplarischer Beweis wäre für »das Paradox von Auschwitz«, daß diejenigen Juden, die kriminelle Handlungen begangen hatten, am Leben blieben.) Vom Rath wäre für einen Racheakt ein besonders ungeeignetes Opfer gewesen – er wurde von der Gestapo wegen seiner offen antinazistischen Haltung und wegen seiner Sympathien für Juden überwacht, und die Geschichte von seiner Homosexualität war vermutlich von der Gestapo erfunden. Grynszpan mag als unwissendes Werkzeug von Gestapoagenten in Paris gehandelt haben, die vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollten – einen Vorwand für Pogrome in Deutschland schaffen und einen Gegner des Naziregimes erledigen –, ohne sich klarzumachen, daß beides zugleich nicht ging, d. h. daß sie nicht vom Rath als Homosexuellen mit unerlaubten Beziehungen zu jüdischen Jugendlichen verleumden und ihn gleichzeitig als Märtyrer und Opfer des »Weltjudentums« hinstellen konnten.
Wie es nun auch immer gewesen sein mag, Tatsache ist, daß im Herbst 1938 die polnische Regierung eine Verfügung erließ, daß alle in Deutschland ansässigen polnischen Juden am 29. Oktober ihre Staatsangehörigkeit verlieren würden; sie besaß wahrscheinlich Informationen über die Absicht der deutschen Regierung, diese Juden nach Polen auszuweisen, und wollte dem zuvorkommen. Ob Leute wie Herr Zindel Grynszpan überhaupt wußten, daß so eine Verfügung existierte, ist mehr als zweifelhaft. Er war 1911 als junger Mann von 25 Jahren nach Deutschland gekommen und hatte ein Lebensmittelgeschäft in Hannover eröffnet, wo ihm im Laufe der Jahre acht Kinder geboren wurden. Als die Katastrophe 1938 über ihn hereinbrach, hatte er 27 Jahre lang in Deutschland gelebt, und wie viele solcher Menschen hatte er sich nie darum gekümmert, seine Papiere in Ordnung zu bringen und um Einbürgerung einzukommen. Nun stand er hier als Zeuge und erzählte seine Geschichte, sorgfältig auf die Fragen, die ihm der Staatsanwalt stellte, antwortend; er sprach klar und fest, ohne Ausschmückung, nicht ein Wort zuviel:
»Am 27. Oktober 1938, es war am Donnerstagabend um 8 Uhr, kam ein Polizist zu uns und sagte, wir sollten zum Polizeirevier 11 kommen. Er sagte, ›Sie werden gleich wieder nach Hause zurückkehren, nehmen Sie nichts weiter mit als Ihre Pässe.‹« Grynszpan ging mit seiner Familie, einem Sohn, einer Tochter und seiner Frau, aufs Revier. Als sie dort ankamen, sah er »viele Leute, manche standen und manche saßen, die Leute weinten, und [die Polizei] schrie auf sie ein: ›Da, unterschreiben Sie! Unterschreiben! Unter schreiben!‹ … Ich mußte unterschreiben, alle haben unter schrieben. Nur einer hat nicht unterschrieben; ich glaube, er hieß Gerschon Silber, und er mußte 24 Stunden in einer Ecke stehen und durfte sich nicht rühren. Dann wurden wir ins Konzerthaus geführt, am Leineufer, und dort wurden aus der ganzen Stadt Leute zusammengebracht, etwa 600 Menschen im ganzen … Dort blieben wir bis Freitag abend, etwa 24 Stunden, ja, bis Freitag abend … Und dann lud man uns auf Polizeiautos, auf Gefängniswagen, ungefähr zwanzig auf jeden Wagen, und transportierte uns zum Bahnhof. Die Straßen waren schwarz von Menschen, und sie schrien: ›Juden raus nach Palästina!‹ … Wir wurden mit der Eisenbahn nach Neu-Bentschen transportiert, nach der polnischen Grenze. Als wir dort ankamen, war es sechs Uhr morgens am Sabbath. Da kamen Züge aus allen möglichen Orten, aus Leipzig, Köln, Düsseldorf, Essen, Bielefeld, Bremen. Zusammen waren wir ungefähr 12 000 Menschen … Das war am Sabbath, am 29. Oktober … Als wir zur Grenze kamen, wurden wir durchsucht, ob jemand noch irgendwelches Geld hätte. Wer mehr als 10 Mark hatte, mußte den Rest abgeben. Dies war das deutsche Gesetz, man durfte nicht mehr als 10 Mark aus Deutschland ausführen. Die Deutschen sagten zu uns: ›Ihr habt nicht mehr mitgebracht, als ihr gekommen seid, und mehr dürft ihr auch nicht mit herausnehmen.‹« Sie mußten fast zwei Kilometer zu Fuß laufen, bis zur polnischen Grenze, denn die Deutschen beabsichtigten, sie auf polnisches Gebiet hinüberzuschmuggeln. »Die SS-Leute trieben uns mit Peitschen an, und denen, die nicht mitkamen, ver setzten sie Peitschenhiebe, und Blut floß auf die Straße. Sie rissen uns unsere Koffer weg, sie behandelten uns auf die brutalste Weise, damals sah ich zum
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