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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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rechten Weg weisen«, das heißt, den Weg nach dem damaligen Palästina, das bald zum Staate Israel werden sollte. Diese Aussage klang vielleicht stärker nach zionistischer Propaganda als alles vorher Gehörte, und die Darstellung der Tatsachen war lückenhaft: von den ursprünglichen Insassen des Theresienstädter Gettos waren im November 1944, nachdem der letzte Transport nach Auschwitz abgegangen war, nur noch etwa 10 000 Menschen übrig, zu denen sich im Februar 1945 noch einmal 6000 – 8000 gesellten, die als jüdische Teile von Mischehen zu einem Zeitpunkt hierher transportiert wurden, als das Transportwesen Deutschlands schon halb zusammengebrochen war. Alle übrigen waren im April 1945, als das Lager bereits vom Roten Kreuz übernommen worden war, auf offenen Kohlenwaggons oder auch zu Fuß hereingeströmt – Überlebende von Auschwitz, die dort zur Arbeit abkommandiert und dann bei der Räumung des Lagers nach Dachau und Buchenwald dirigiert worden waren. Unter ihnen befanden sich in der Hauptsache polnische und ungarische Juden. Als die Russen am 9. Mai das Lager befreiten, sind viele der tschechischen Juden, die zu dem alten Stamm der Theresienstädter gehörten, sofort in ihre alte Heimat zurückgekehrt – sie befanden sich ja in ihrem eigenen Lande. Als die Quarantäne, welche die Russen wegen der im Lager herrschenden Seuchen verhängt hatten, wieder aufgehoben wurde, haben sich die meisten offenbar auf eigene Initiative »repatriiert«, und der Rest, den die Palästinenser schließlich noch vorfanden, bestand vermutlich aus Menschen, die aus den verschiedensten Gründen – Krankheit, völlige Verlassenheit, Jugendliche, deren Familien ausgerottet waren – nicht »repatriierbar« waren. Und dennoch sprach der Zeuge im Grunde die Wahrheit: Diejenigen, welche die Gettos und Lager überlebt hatten und dem Alptraum absoluter Ohnmacht und Verlassenheit – als sei die Welt ein einziger Dschungel und sie darin die Beute aller – lebend entronnen waren, hatten nur einen Wunsch, in ein Land zu kommen, in dem sie nie wieder einen Nichtjuden zu Gesicht bekommen würden. Sie brauchten die Abgesandten des jüdischen Volkes aus Palästina, um zu erfahren, wie sie legal oder illegal dorthin gelangen könnten, und sie bedurften der Zusicherung, daß man sie mit offenen Armen empfangen würde, aber es bedurfte keiner Propaganda, um sie zu überzeugen.
    Dies war eine der wenigen Gelegenheiten, während deren man es zufrieden sein konnte, daß Landau als vorsitzender Richter in seinem Kampf mit dem Oberstaatsanwalt den kürzeren gezogen hatte. Und eine andere solche Gelegenheit zeigte sich sogar, bevor der Kampf überhaupt richtig begonnen hatte. Denn Herrn Hausners erster Hintergrundzeuge sah nicht so aus, als hätte er sich darum beworben, hier zu erscheinen. Er war ein alter Mann, der das jüdische Käppchen der Orthodoxen trug, klein, zerbrechlich, mit spärlichem weißem Haar und Bart und einer auffallend aufrechten Haltung. Seine Name war in gewissem Sinne »berühmt«, und man verstand, weshalb der Ankläger sein »Bild« mit ihm beginnen wollte. Denn dies war Zindel Grynszpan, der Vater jenes Herschel Grynszpan, der am 7. November 1938 im Alter von 17 Jahren zur deutschen Botschaft in Paris ging und deren dritten Sekretär, den jungen Legationsrat Ernst vom Rath, erschoß. Das Attentat hatte die Pogrome in Deutschland und Österreich ausgelöst, die sogenannte Kristallnacht, die tatsächlich ein Vorspiel zur »Endlösung« war, wenn auch Eichmann mit den Vorbereitungen dazu nichts zu tun gehabt hatte. Die Motive für Grynszpans Tat 12 sind niemals voll geklärt worden, und sein Bruder, den die Anklage ebenfalls als Zeugen aufrief, war bemerkenswert zurück haltend mit Auskünften hierüber. Das Gericht unterstellte, daß das Attentat ein Racheakt für eine Aktion gewesen sei, in der während der letzten Oktobertage 1938 17000 polnische Juden, darunter die Familie Grynszpan, aus Deutschland ausgewiesen und an die polnische Grenze gebracht worden waren. Diese Erklärung gilt jedoch allgemein für höchst unwahrscheinlich. Herschel Grynszpan – ein Psychopath, unfähig, die Schule abzuschließen – hatte sich seit Jahren in Paris und Brüssel herumgetrieben und war aus beiden Städten ausgewiesen worden. Bei dem Prozeß in Frankreich hatte sein Anwalt von homosexuellen Beziehungen gesprochen, die aber niemals geklärt wurden. Nach der Besetzung Frankreichs wurde Grynszpan an Deutschland ausgeliefert, wo er

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