Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
kann.
Dann kam Eichmann: »Wenn ich bitten darf, ein kurzes Schlußwort.« Seine Hoffnung auf Gerechtigkeit sei enttäuscht; das Gericht habe ihm nicht geglaubt, obwohl er sich stets bemüht habe, die Wahrheit zu sagen. Das Gericht verstünde ihn nicht: er habe nie »zu den Fanatikern der Judenverfolgung gehört«, das sei ein »großer Irrtum«, »die Zeugen haben da eine große Unwahrheit gesagt«; sein »Wille war nicht, Menschen umzubringen«. Seine Schuld war sein Gehorsam, und Gehorsam werde doch als Tugend gepriesen. Seine Tugend sei von den Regierenden mißbraucht worden. Aber er hätte nicht zu der »Führungsschicht« gehört, er sei vielmehr ihr Opfer, und Bestrafung verdienten nur die Führer. (Er ging nicht ganz so weit wie viele andere Kriegsverbrecher der mittleren und unteren Dienstgrade, die sich bitter beschwerten, erst sei ihnen gesagt worden, sie brauchten sich über »Verantwortlichkeiten« keine Gedanken zu machen, und nun könnten sie die wirklichen Schuldigen nicht zur Rechenschaft ziehen, denn diese hätten sie im Stich gelassen – durch Selbstmord oder am Galgen!) »Ich bin nicht der Unmensch, zu dem man mich macht«, sagte Eichmann. »Ich bin das Opfer eines Fehlschlusses.« Er unterstrich, was Dr. Servatius gesagt hatte, ohne den Ausdruck »Sündenbock« zu gebrauchen: »Ich bin der tiefsten Überzeugung, daß ich hier für andere herhalten muß.« Nach weiteren zwei Tagen, am Freitag, dem 15. Dezember 1961, um 9.00 Uhr morgens wurde die Todesstrafe ausgesprochen.
Drei Monate später, am 22. März 1962, wurden vor dem Appellationsgericht, Israels Oberstem Gericht, die Revisionsverhandlungen vor fünf Richtern unter dem Vorsitz von Itzhak Olshan eröffnet. Wieder erschienen für die Anklage Herr Hausner mit vier Assistenten und Dr. Servatius allein für die Verteidigung. Der Verteidiger wiederholte all die alten Argumente gegen die Zuständigkeit des israelischen Gerichts, und da all seine Bemühungen, die westdeutsche Regierung zur Einleitung eines Auslieferungsverfahrens zu veranlassen, vergeblich gewesen waren, verlangte er jetzt, daß Israel die Auslieferung anbieten solle. Er hatte eine neue Zeugenliste mitgebracht, auf der sich aber kein einziger befand, von dem man »neues Beweismaterial« hätte erwarten können. Auf der Liste stand u. a. auch Herr Dr. Hans Globke, den Eichmann nie im Leben gesehen und von dem er vermutlich in Jerusalem zum erstenmal gehört hatte, und neben ihm befand sich höchst verblüffenderweise der Name Dr. Chaim Weizmanns, der seit zehn Jahren tot war. Servatius’ Plädoyer war ein unglaubliches Durcheinander, das von Irrtümern wimmelte; so bot er z. B. die französische Übersetzung eines von der Anklage bereits im Original vorgelegten Dokuments als neues Beweismittel an, und in zwei anderen Fällen hatte er einfach die Dokumente mißverstanden. Im auffallendem Kontrast zu diesen Nachlässigkeiten standen gewisse Bemerkungen, die das Gericht unweigerlich als Affront betrachten mußte und die sorgfältig plaziert waren; die Vergasungen waren wiederum eine »medizinische Angelegenheit«; dem jüdischen Gericht wurde das Recht abgesprochen, über das Schicksal der Kinder von Lidice zu befinden, da diese nicht jüdisch gewesen seien; das israelische Gerichtsverfahren laufe dem kontinentaleuropäischen Verfahren – auf das Eichmann als Deutscher ein Anrecht habe – zuwider, insofern es dem Angeklagten auferlege, die Beweismittel für seine Verteidigung beizubringen; das aber habe der Angeklagte nicht tun können, weil in Israel weder Zeugen noch Entlastungsdokumente verfügbar seien. Kurz, das Verfahren sei unfair und das Urteil ungerecht gewesen.
Die Verhandlungen vor dem Berufungsgericht dauerten nur eine Woche, danach vertagte sich das Gericht für zwei Monate. Am 29. Mai 1962 wurde das Urteil der zweiten Instanz verlesen – weniger umfangreich als das erste, aber immer noch 51 einzeilige Seiten im Kanzleiformat. Scheinbar bestätigte es das Urteil des Bezirksgerichts in allen Punkten, doch für diese Bestätigung hätten die Berufungsrichter nicht zwei Monate und 51 Seiten gebraucht. In Wirklichkeit war das Urteil des Berufungsgerichts eine Revision des erstinstanzlichen Urteils, wenn es das auch nicht aussprach. In auffälligem Gegensatz zu dem ursprünglichen Urteil wurde jetzt befunden, daß »der Berufungskläger überhaupt keine Befehle von oben« erhalten habe. Er war sein eigener Chef, und er gab die Befehle in allem, was jüdische
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