Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Sphäre des Rechts, über die »unserer Meinung kein größeres Gewicht zukommt als der Meinung jedes Beliebigen, der Studium und Nachdenken darauf verwendet«. So gibt es in der Tat auf die anläßlich des Prozesses immer wieder erhobene Frage, was er denn nun eigentlich bezwecke, auch nur eine Antwort: Recht zu sprechen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun.
Die gegen den Eichmann-Prozeß erhobenen Einwände lassen sich in drei Kategorien einteilen. Zunächst gab es die schon gegen die Nürnberger Prozesse erhobenen Bedenken, die nun wiederholt wurden: Das Gesetz, nach dem Eichmann gerichtet wurde, sei retroaktiv, und er erscheine vor dem Gerichtshof des Siegers. Hinzu kamen die nur das Jerusalemer Gericht betreffenden Einwände, die entweder seine Zuständigkeit überhaupt bestritten oder ihm vorwarfen, den Vorgang der Entführung des Angeklagten nicht berücksichtigt zu haben. Die wichtigsten Einwände schließlich richteten sich dagegen, daß die Anklage auf Verbrechen »gegen das jüdische Volk« laute, anstatt Eichmann des »Verbrechens gegen die Menschheit« zu beschuldigen, Einwände also gegen den Wortlaut des Gesetzes, nach dem gegen ihn verhandelt wurde, die darauf hinausliefen, daß einzig ein internationaler Gerichtshof zuständig sei, diese Art von Verbrechen abzuurteilen.
Die Antwort des Gerichts auf die erste Kategorie von Einwänden war einfach: die Nürnberger Prozesse wurden in Jerusalem als rechtsgültiger Präjudizfall angeführt, und die an Landesrecht gebundenen Richter konnten kaum anders argumentieren, da das Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazihelfern von 1950 selbst sich darauf berief. »Diese Gesetzgebung«, führte das Urteil aus, »unterscheidet sich grundlegend von allen üblichen Strafgesetzen: das Gesetz ist sowohl retroaktiv wie extraterritorial«. Die Ursache für diese Verschiedenheit liegt einfach in der Natur der Verbrechen, mit denen das Gesetz sich befaßt. Der rückwirkende Charakter, kann man hinzufügen, verletzt das Prinzip Nullum crimen, nulla poena sine lege nur formal und nicht substantiell, da dieses Prinzip sinnvoll nur auf Taten anzuwenden ist, die dem Gesetzgeber bekannt sind; wenn plötzlich ein bis dahin unbekanntes Verbrechen wie Völkermord geschieht, verlangt gerade die Gerechtigkeit ein Urteil, das einem neuen Gesetz folgt; im Fall Nürnberg war dieses neue Gesetz das Londoner Statut von 1945, im Fall Israel war es das Gesetz von 1950. Die Frage ist nicht, ob dies Gesetze mit rückwirkender Kraft waren, was sie natürlich sein mußten, sondern ob sie einzig auf bisher unbekannte Arten krimineller Handlungen Anwendung fanden. Diese Bedingung für rück wirkende Gesetzgebung war im Londoner Statut, das die Grundlage der Gerichtsbarkeit des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg bildete, ernsthaft verletzt worden, und dies mag mit ein Grund dafür sein, daß die Diskussion dieser Fragen immer noch nicht zur Ruhe gekommen ist.
Das Statut gewährte Gerichtsbarkeit über drei Arten von Verbrechen: über »Verbrechen gegen den Frieden«, vom Tribunal bezeichnet als »das größte internationale Verbrechen … das in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft«; weiterhin über »Kriegsverbrechen« und schließlich über »Verbrechen gegen die Menschheit« ( humanity ). Von diesen Verbrechen war nur das gegen die Menschheit so neuartig, daß man nicht auf Präzedenzfälle zurückgreifen konnte. Der Angriffskrieg ist mindestens so alt wie die überlieferte Geschichte, und wie oft er auch als »verbrecherisch« angeprangert wurde, ist er doch niemals im formalen Sinne als Verbrechen anerkannt worden. (Zugunsten der Rechtfertigungsversuche der Urteile, die in Nürnberg in dieser Angelegenheit ergangen sind, läßt sich wenig vorbringen. Zwar stimmt es, daß Wilhelm II. nach dem Ersten Weltkrieg vor ein Tribunal der Alliierten Mächte gestellt werden sollte, aber das dem ehemaligen Kaiser zur Last gelegte Verbrechen war nicht der Krieg, sondern die Verletzung von Verträgen – insbesondere die Verletzung der Neutralität Belgiens. Und es stimmt auch, daß der Briand-Kellogg-Pakt vom August 1928 Kriege als nicht zu rechtfertigende Mittel der Außenpolitik gebrandmarkt hatte, aber wie man nun eigentlich feststellen sollte, wer der Angreifer ist, und die Frage von Sanktionen, das war offengeblieben – ganz abgesehen davon, daß das Sicherheitssystem, das der Pakt herstellen sollte, lange vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zusammengebrochen war.)
Weitere Kostenlose Bücher