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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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Außerdem war eins der zu Gericht sitzenden Länder, nämlich Sowjetrußland, in der Kriegsfrage dem Argument des tu quoque ausgesetzt: Hatten die Russen nicht 1939 Finnland angreifen und an der Teilung Polens mitwirken dürfen, ohne daß irgend jemand von Sanktionen auch nur geredet hätte? »Kriegsverbrechen« andererseits, für die sich gewiß nicht weniger Präzedenzfälle aufzählen ließen als für die »Verbrechen gegen den Frieden«, waren völkerrechtlich geregelt, für sie bedurfte es keines neuen, retroaktiven Gesetzes. Die Haager und Genfer Konventionen hatten »Verletzungen der Kriegsgesetze oder -gebräuche« definiert; sie bestanden hauptsächlich in der Mißhandlung von Gefangenen und in kriegsähnlichen Handlungen gegen die Zivilbevölkerung, und die haupt sächliche Schwierigkeit in Nürnberg lag in der unbestreitbaren Tatsache, daß wiederum das Argument des tu quoque zutraf: Rußland, das die Haager Konvention nie unterzeichnet hatte (Italien hatte sie übrigens auch nicht ratifiziert), war des Verstoßes gegen die Bestimmungen für die Behandlung von Kriegsgefangenen mehr als verdächtig, und die Ermordung von 15 000 polnischen Offizieren, deren Leichen im Wald von Katyn (in der Nähe des russischen Smolensk) gefunden worden sind, scheint neueren Nachforschungen zufolge auch auf russisches Konto zu gehen. Aber auch das englisch-amerikanische Flächenbombardement offener Städte und vor allem der amerikanische Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki konstituierten eindeutig den Tatbestand von Kriegsverbrechen im Sinn der Haager Konvention. Und während die Bombenangriffe auf deutsche Städte durch das Bombardement von London, Coventry und Rotterdam provoziert worden waren, kann das gleiche nicht von dem Einsatz einer vollkommen neuen und in höchster Potenz zerstörerischen Waffe behauptet werden, deren Vorhandensein auf mehr als eine Weise hätte angekündigt und demonstriert werden können. Gewiß, daß die von den Alliierten begangenen Verletzungen der Haager Konvention niemals auch nur zur Sprache kamen, lag ganz offensichtlich daran, daß das Internationale Militärtribunal nur dem Namen nach international war, daß es in Wirklichkeit der Gerichtshof der Sieger war; und die in jedem Fall zweifelhafte Autorität seiner Rechtsprechung wurde nicht gerade dadurch erhöht, daß die Koalition, die den Krieg gewonnen und dann dieses gemeinsame Unternehmen auf den Weg gebracht hatte, zusammenbrach, noch ehe, wie Otto Kirchheimer sagt, »die Tinte auf den Urteilssprüchen von Nürnberg hatte trocknen können«. Aber in diesen offensichtlichen Dingen liegt weder der einzige noch vielleicht der ausschlaggebende Grund dafür, daß keine der im Sinn der Haager Konvention als Kriegsverbrechen anzusehenden Handlungen der Alliierten vor Gericht gebracht und abgeurteilt wurden; außerdem weiß man, wie sehr gerade das Nürnberger Tribunal versucht hat, keinen der Angeklagten auf Grund von Tatbeständen abzuurteilen, die Anhaltspunkte für das Argument des tu quoque boten. Denn in Wahrheit wußte gegen Ende des Zweiten Weltkrieges jedermann, daß die technische Entwicklung der Gewaltmittel die Anwendung von »verbrecherischer« Kriegführung unvermeidlich gemacht hatte. Gerade die Unterscheidung zwischen Armee und Zivilbevölkerung, zwischen militärischen Zielen und offenen Städten, auf denen die Definition der Haager Konvention basierte, war überholt. Deshalb glaubte man unter diesen neuen Bedingungen als Kriegsverbrechen nur solche Handlungen ansehen zu können, die jeglicher militärischen Zweckmäßigkeit entbehrten, Verbrechen also, bei denen die einzige nachweisbare Absicht in »Unmenschlichkeit« bestand.
    Dieses Moment zweckloser Brutalität war ein gültiges Kriterium für die Definition, was unter den gegebenen Umständen den Tatbestand des Kriegsverbrechens konstituierte, aber es versagte für die Definition des einzigen vollkommen neuartigen Verbrechens, des »Verbrechens gegen die Menschheit«. Gerade dies aber definierte der Artikel 6c des Statuts, als ob es sich auch hier um »an der Zivilbevölkerung vor Beginn oder während des Krieges begangene unmenschliche Handlungen « handelte – also um ein Kriegsverbrechen, um einen der bekannten Exzesse im Verfolg von Krieg und Sieg. Anstoß für die Erklärung der Alliierten, daß (in Churchills Worten) »die Bestrafung von Kriegsverbrechern eines der Hauptziele des Krieges« sei, hatten aber keineswegs diese längst bekannten Verbrechen

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