Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
gegeben, sondern im Gegenteil Berichte von nie dagewesenen Greueltaten, die Ausrottung ganzer Völker, die »Säuberung« ganzer Länder von der in ihnen ansässigen Bevölkerung, also nicht bloß Verbrechen, die »durch keine militärische Notwendigkeit gerechtfertigt werden können«, sondern vielmehr Handlungen, die in Wirklichkeit mit der Kriegführung nichts zu tun hatten und für den Fall eines siegreichen Friedens die Fortsetzung der »negativen Bevölkerungspolitik«, also des systematischen Mordens ankündigten. Und dieses Verbrechen, für dessen Verfolgung Völkerrecht wie Landesrecht tatsächlich nicht eingerichtet waren, war überdies das einzige, bei dem das Argument des tu quoque nicht zutraf. Und doch haben die Nürnberger Richter keinem anderen Verbrechen gegenüber solches Unbehagen empfunden, über kein anderes hat ihr Urteil eine so quälende Zweideutigkeit zurückgelassen. Es ist vollkommen richtig, daß – in den Worten des französischen Richters in Nürnberg, Donnedieu de Vabres, dem wir eine der besten Analysen des Prozesses verdanken (»Le Procès de Nuremberg«) – »die Kategorie der ›Verbrechen gegen die Menschheit‹, die das Statut durch eine sehr kleine Tür eingelassen hatte, sich vermöge des Urteilsspruches des Gerichts wieder verflüchtigte«. Denn die Richter waren genauso inkonsequent wie das Statut selbst; auch sie zogen das bekannte »Kriegsverbrechen« dem neuen »Verbrechen an der Menschheit« vor und »verurteilten auf Grund der Anklagen wegen Kriegsverbrechen, in das die üblichen gemeinen Verbrechen mit einbegriffen waren, während sie die Anklage wegen Verbrechens gegen die Menschheit nach Möglichkeit vermieden« (Kirchheimer); bei der Festsetzung des Strafmaßes aber zeigte sich dann, was sie wirklich von der Sache hielten: die schwerste Strafe, die Todesstrafe, wurde nur über diejenigen verhängt, die an jenen völlig neuen Grausamkeiten beteiligt gewesen waren, welche tatsächlich ein »Verbrechen gegen die Menschheit« konstituieren oder, wie es der französische Ankläger François de Menthon mit größerer Genauigkeit bezeichnete, »ein Verbrechen gegen Rang und Stand des Menschen«. Und als eine Anzahl von Männern zum Tode verurteilt wurde, die mit der »Verschwörung« gegen den Frieden auch im Sinne des Urteils nicht das geringste zu tun gehabt hatten, war die Vorstellung, daß der Angriffskrieg »das größte internationale Verbrechen« sei, stillschweigend ad acta gelegt.
Zur Rechtfertigung des Eichmann-Prozesses ist oft gesagt worden, daß die Juden in Nürnberg nur als Zuschauer fungiert haben, obwohl das größte während des letzten Krieges begangene Verbrechen sich gegen sie gerichtet habe, und das Urteil des Jerusalemer Gerichts hob denn auch hervor, daß jetzt zum ersten Male die jüdische Katastrophe »den Mittelpunkt des Verfahrens bildet und daß diese Tatsache diesen Prozeß von denen unterscheidet, die ihm vorangegangen sind«, in Nürnberg und anderswo. Aber dies ist bestenfalls eine Halbwahrheit. Gerade die jüdische Katastrophe hat die Alliierten veranlaßt, den Begriff vom »Verbrechen gegen die Menschheit« neu einzuführen, zumal, wie Julius Stone in »Legal Controls of International Conflict« (1954) ausführt, der Massenmord an den Juden, wenn es sich um deutsche Staatsangehörige handelte, anders nicht unter Anklage gestellt werden konnte. Und nur die Vorschrift des Statuts, daß dies Verbrechen mit den Kriegsverbrechen zusammen behandelt werden müsse, obwohl es so wenig mit dem Krieg zu tun hatte, daß es in Wirklichkeit die Kriegführung behinderte, ja zu ihr im Widerspruch stand, hat das Nürnberger Tribunal daran gehindert, ihm volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, keineswegs aber die Tatsache, daß die Opfer Juden waren. Wie tief die Nürnberger Richter sich der jüdischen Katastrophe bewußt waren, kann man vielleicht am besten daran ermessen, daß der einzige Angeklagte, der nur auf Grund eines »Verbrechens gegen die Menschheit« zum Tode verurteilt wurde, Julius Streicher war, dessen einzige Spezialität in einem pornographischen Antisemitismus bestanden hatte. In diesem Fall ließen die Richter alle Bedenken außer Betracht.
Was das Jerusalemer Verfahren von allen vorangegangenen Prozessen unterschied, war nicht, daß das jüdische Volk im Mittelpunkt stand. In dieser Hinsicht glich der Prozeß im Gegenteil viel eher den Nachkriegsprozessen in Polen und Un garn, in Jugoslawien und Griechenland, in Sowjetrußland und
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