Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
das er überhaupt gelesen hat, und es machte einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn. Von nun an war er für immer »Zionist«. Seit damals, das wiederholte er immer wieder, habe er kaum etwas anderes im Kopf gehabt als die »politische Lösung« der Judenfrage. Darunter verstand er Vertreibung aus Deutschland im Gegensatz zu der »physischen Lösung« der Ausrottung. Er behauptete auch, nach der Lektüre Herzls mit nichts angelegentlicher sich befaßt zu haben, als »wie man festen Grund und Boden unter ihre Füße« bekommen könnte; und es stimmt, daß man in Jerusalem nur das Wort Juden in seiner Gegenwart zu erwähnen brauchte, um von ihm zu hören: »Festen Grund und Boden unter ihre Füße.« (Es ist immerhin erwähnenswert, daß er sich offenbar noch im Jahre 1939 in Wien des Grabes Herzls gegen Friedhofsschänder annahm, und es wird vielfach berichtet, er habe sich zu der Gedenkfeier von Herzls fünfunddreißigstem Todestag in Zivil am Grabmal eingefunden. In Jerusalem, wo er sich doch seiner guten Beziehungen zu jüdischen Funktionären dauernd rühmte, hat er diese Dinge merkwürdigerweise nicht erzählt.) Um Verständnis für diese Ansicht der Dinge zu verbreiten, begann er in der SS Vorträge zu halten und sogar Broschüren zu schreiben. Damals eignete er sich auch ein paar Brocken Hebräisch an, die ihn in Stand setzten, mit einigem Stocken eine jiddische Zeitung zu lesen – was nicht weiter schwierig war, da Jiddisch, das ja im wesentlichen ein alter deutscher Dialekt in hebräischer Schreibweise ist, von jedem Deutschsprechenden verstanden werden kann, der ein paar Dutzend hebräische Wörter gelernt hat. Er las sogar noch ein weiteres Buch, Adolf Böhms »Geschichte des Zionismus« (das er während des Prozesses ständig mit Herzls »Judenstaat« verwechselte), und das kann als beachtliche Leistung gelten bei jemandem, der zuvor nach seiner eigenen Auskunft nur mit äußerstem Widerstreben irgend etwas anderes als Zeitungen gelesen und zum Kummer seines Vaters niemals von den Büchern in der elterlichen Bibliothek Gebrauch gemacht hatte. Im Anschluß an Böhm studierte er die Organisation der zionistischen Bewegung mit all ihren Parteien, Jugendgruppen und verschiedenen Programmen. Das machte ihn zwar noch nicht zur »Autorität«, doch es genügte, ihm den offiziellen Auftrag zu verschaffen, in zionistischen Ämtern und Versammlungen herumzuspionieren. Es ist wichtig festzuhalten, daß sein Training in jüdischen Angelegenheiten fast ausschließlich die zionistische Ideologie und Organisation betraf.
Die ersten persönlichen Kontakte zu jüdischen Funktionären, alles alte prominente Zionisten, waren durchaus zufriedenstellend. Anders als die Assimilanten, die er stets verachtet hatte, und anders als die orthodoxen Juden, die ihn langweilten, waren die Zionisten für Eichmann »Idealisten« wie er selbst. Um seinen Vorstellungen von einem »Idealisten« zu entsprechen, genügte es nicht, an eine »Idee« zu glauben, nicht zu stehlen und keine Bestechungen anzunehmen, obwohl diese Qualifikationen unerläßlich waren. »Idealist« war jemand, der für seine Idee lebte – daher konnte er keinen anderen Beruf haben – und der bereit war, seiner Idee alles und insbesondere alle zu opfern. Wenn Eichmann im Polizeiverhör sagte, daß er seinen eigenen Vater in den Tod geschickt hätte, wenn das verlangt worden wäre, so wollte er damit nicht nur hervorheben, in welch hohem Grade er von Befehlen abhängig und zum Gehorchen bereit war; er wollte auch demonstrieren, was für ein »Idealist« er immer gewesen war. Natürlich hatte auch ein »Idealist« wie jedermann seine persönlichen Neigungen und Empfindungen, doch würde er nie sein Handeln von Gefühlen beeinflussen lassen, die mit seiner »Idee« in Konflikt stünden. Der größte »Idealist«, den er, Eichmann, jemals unter den Juden getroffen hatte, sei Dr. Rudolf Kastner gewesen, mit dem er während der ungarischen Judendeportationen verhandelt hatte und übereingekommen war, die »illegale« Ausreise einiger tausend Juden nach Palästina zu gestatten (die Züge wurden tatsächlich von deutscher Polizei bewacht) als Gegenleistung für »Ruhe und Ordnung« in den Lagern, aus denen Hunderttausende nach Auschwitz transportiert wurden. Da die wenigen Tausend, die durch diesen Handel gerettet wurden, prominente Juden und Mitglieder der zionistischen Jugendbewegung waren, also im Sinne Eichmanns »bestes biologisches Material«, hatte Dr. Kastner eben
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