Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
die anderen Juden seiner »Idee« geopfert, wie es sich für einen Idealisten gehört. Richter Benjamin Halevi, einer der drei Richter im Eichmann-Prozeß, war Vorsitzender in dem Verleumdungsprozeß gewesen, den Kastner in Israel gegen einen Journalisten wegen seiner Kooperation mit Eichmann und anderen hohen Nazis hatte anstrengen müssen; Halevi war damals der Meinung gewesen, der Wahrheitsbeweis sei erbracht, Kastner habe »seine Seele dem Teufel verkauft«. Nun saß der Teufel selbst auf der Anklagebank und entpuppte sich als »Idealist«; und so unglaublich es klingt: es ist durchaus möglich, daß derjenige, der seine Seele verkauft hatte, ebenfalls ein »Idealist« gewesen ist.
Längst ehe all dies geschah, erhielt Eichmann die erste Gelegenheit, seine neuen Weisheiten zu betätigen. Nach dem Anschluß, im März 1938, wurde er nach Wien geschickt, um eine Art von Auswanderung zu organisieren, die in Deutschland noch unbekannt war, wo jedenfalls his zum Herbst 1938 die Fiktion aufrechterhalten wurde, daß die Juden freiwillig das Land verließen – falls es ihnen in Deutschland nicht mehr gefiel, konnten sie gehen. Auch die deutschen Juden glaubten an diese Fiktion, nicht zuletzt deswegen, weil sie im Parteiprogramm der NSDAP, das mit der Weimarer Verfassung das merkwürdige Schicksal teilte, niemals offiziell außer Kraft gesetzt zu werden, verankert schien; Hitler hatte die berühmten 25 Punkte ausdrücklich für »unabänderlich« erklärt. Im Licht späterer Ereignisse sind die antisemitischen Pläne dieses Programms in der Tat harmlos: Juden können nicht vollgültige Bürger und daher auch keine Beamten sein, sie müssen aus der Presse verschwinden, und diejenigen, die nach dem 2. August 1914 die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hatten, sollen ausgebürgert werden. Was natürlich hieß, daß sie ausgewiesen werden konnten. (Es ist charakteristisch für die Nazimethoden, daß die Ausbürgerung sofort erfolgte, aber die summarische Ausweisung von etwa 17 000 Juden, die von einem Tag auf den anderen bei Neu-Benschen über die polnische Grenze getrieben wurden, erst fünf Jahre später stattfand, als niemand mehr damit rechnete.) Das Parteiprogramm wurde von den Naziführern niemals ernst genommen; es war ihr Stolz, einer Bewegung –im Unterschied zu einer Partei – anzugehören, und eine Bewegung konnte nicht an ein Programm gebunden sein. Schon vor der Machtergreifung waren die 25 Punkte lediglich eine Konzession an das Parteiensystem gewesen und an Wähler, die so altmodisch waren, sich zu erkundigen, was für ein Programm die Partei besaß, der sie beitreten würden. Eichmann war, wie wir sahen, frei von solch demokratischen Vorurteilen, und als er dem Jerusalemer Gericht erzählte, daß er bei Eintritt in die Partei Hitlers Programm nicht gekannt hätte, sprach er höchstwahrscheinlich die Wahrheit: »Um das Parteiprogramm hat man sich nicht gekümmert, aber man wußte, wem man sich anschloß.« Die Juden jedoch waren altmodisch, sie kannten die 25 Punkte auswendig und glaubten an sie; und was dann der legalen Verwirklichung des Parteiprogramms widersprach, schrieben sie den vorübergehenden »revolutionären Ausschreitungen« undisziplinierter Mitglieder oder Einheiten der NSDAP zu.
So war das, was sich im März 1938 in Wien anbahnte, etwas gänzlich Neues. Eichmanns Aufgabe war als »forcierte Auswanderung« bezeichnet worden, was nichts weniger hieß, als daß alle Juden, ohne Rücksicht auf ihre Absichten und ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit, zur Auswanderung gezwungen werden sollten. Es handelte sich also um die Austreibung der Juden aus dem Reich, mit der man in Österreich begann. Sooft Eichmann sich an die zwölf besten Jahre seines Lebens erinnerte, hob er hervor, daß dieses Jahr in Wien als Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung aus Österreich seine glücklichste und erfolgreichste Zeit gewesen sei. Kurz zuvor war er zum Untersturmführer, das heißt in den Offiziersrang befördert und für seine »umfassende Kenntnis der Organisationsformen und Weltanschauung des Gegners Judentum« zitiert worden. Der Auftrag in Wien war die erste wichtige Aufgabe, die ihm übertragen wurde. Seine Karriere, die so langsam vorangeschritten – war, war endlich in Gang gekommen. Er muß sich überschlagen haben, um sich zu bewähren, und sein Erfolg war glänzend: innerhalb von acht Monaten verließen 45 000 Juden Österreich, während nicht mehr als 19 000 in der gleichen
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