Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
Vom Netzwerk:
können, daß die Karrieren in der SS von hohen moralischen Qualitäten abhingen, störte ihn nicht im mindesten und brachte den Mechanismus seiner Reaktionen nicht für eine Sekunde aus dem Takt.
    Gelegentlich bricht die Komik in das Grauen ein und bringt dann Geschichten hervor, an deren Wahrheit kaum zu zweifeln ist, deren makabere Lächerlichkeit aber alles übertrifft, was dem Surrealismus zu diesen Dingen je hätte einfallen können. Eine solche Geschichte erzählte Eichmann während des Polizeiverhörs über den Kommerzialrat Storfer aus Wien, einen der Vertreter der jüdischen Gemeinde, der, wie Eichmann meinte, ein ehrenwerter Mann, aber ein Pechvogel war. Eichmann hatte von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, ein Telegramm bekommen, daß Storfer ins Lager eingeliefert worden sei und dringend verlangt habe, ihn zu sehen.
    »Und da hab ich mir gesagt: Gut, der Mann war immer ordentlich gewesen, man hat die ganzen Jahre schließlich und endlich, er für sich und ich in meiner Zentralstelle, jeder am Strang gezogen. Das lohnt sich mir, da fahre ich hin, da wollen wir mal sehen, was da los ist. Und bin auf dem Wege zu Ebner [dem damaligen Leiter der Wiener Gestapo], und Ebner sagte mir – ich erinnere mich heute nur dunkel –: Ja, sagte er, hätte er sich nicht so ungeschickt benommen, hier hat er sich versteckt gehalten und wollte flüchten, oder irgend etwas war da gewesen. Da haben die Beamten zugegriffen, haben ihn eingesperrt, ins Konzentrationslager gesteckt, nach dem Reichsführerbefehl, wer drin war, durfte nicht wieder heraus. Konnte nichts gemacht werden, weder ein Dr. Ebner noch ich, noch irgendjemand konnte da etwas machen. Konnte nicht rauskommen. Ich fuhr nach Auschwitz und sage – besuchte, suchte Höß auf – und sagte: Hier sitzt Storfer ein – ›Ja, er wurde einem Arbeitsblock zugeteilt.‹ Dann ist er geholt worden. Storfer, ja, dann war es ein normales menschliches Treffen gewesen. Er hat mir sein Leid geklagt. Ich habe gesagt: ›Ja, mein lieber guter Storfer, was haben wir denn da für ein Pech gehabt?‹ und habe ihm auch gesagt: ›Schauen Sie, ich kann Ihnen wirklich gar nicht helfen, denn auf Befehl des Reichsführers kann keiner Sie herausnehmen. Ich kann Sie nicht herausnehmen, Dr. Ebner kann Sie nicht herausnehmen. Ich hörte, daß Sie hier eine Dummheit gemacht haben, daß Sie sich versteckt hielten oder türmen wollten, was Sie doch gar nicht notwendig gehabt haben.‹ [Hiermit meinte Eichmann, daß jüdische Funktionäre nicht deportiert wurden.] Aber ich weiß nicht mehr, was mir darauf gesagt wurde. Und dann sagte mir Storfer – sagte ich ihm, wie es ihm geht sagte er: Ja, er möchte doch bitten, ob er nicht arbeiten brauchte, es wäre Schwerarbeit, und dann hab ich dann Höß gesagt: Arbeiten braucht Storfer nicht. Sagte Höß: Hier muß aber jeder arbeiten. Da sag ich: Gut, sage ich, ich werde eine Aktennotiz anlegen, sagte ich, daß Storfer hier mit dem Besen (vor der Kommandantur war ein Garten, eine Gartenanlage), mit dem Besen die Kieswege in Ordnung hält. So kleine Kieswege waren dort, und daß er das Recht hat, sich jederzeit mit dem Besen auf eine der Bänke zu setzen. Sage ich: Ist das recht Herr Storfer? Paßt Ihnen das? Da war er sehr erfreut, und wir gaben uns die Hand, und dann hat er den Besen bekommen und hat sich auf die Bank gesetzt. Das war für mich eine große innere Freude gewesen, daß ich den Mann, mit dem ich so lange Jahre, den ich so lange Jahre zumindest sah – und man sprach.«
    Sechs Wochen nach diesem »normalen, menschlichen Treffen« war Storfer tot – offenbar wurde er nicht vergast, sondern erschossen.
    Was ist das nun – der klassische Fall pathologischer Verlogenheit, gepaart mit abgründiger Dummheit? Oder einfach der gewöhnliche Fall verbrecherischer Verstocktheit (Dostojewskij berichtet, ihm sei in Sibirien unter ungezählten Mördern, Einbrechern, Sexualverbrechern kein einziger begegnet, der bereute oder sein Unrecht zugab), die es sich nicht leisten kann, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, weil das eigene Verbrechen aus ihr nicht mehr wegzudenken ist? Immerhin liegt Eichmanns Fall anders als der des gewöhnlichen Verbrechers, weil dieser sich vor der Wirklichkeit einer nichtkriminellen Welt nur in dem eng begrenzten Umkreis seiner Komplicen verschanzen kann. Eichmann dagegen, wenn er sicher sein wollte, daß er nicht log und keiner Selbsttäuschung unterlag, brauchte sich nur in eine nicht zu ferne

Weitere Kostenlose Bücher