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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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Vergangenheit zurückzuversetzen, als zwischen ihm und seiner Umwelt vollkommene Übereinstimmung herrschte, weil 80 Millionen Deutsche gegen die Wirklichkeit und ihre Faktizität durch genau die gleichen Mittel abgeschirmt gewesen waren, von denen Eichmanns Mentalität noch 16 Jahre nach dem Zusammenbruch bestimmt war – durch die gleiche Verlogenheit und Dummheit und durch die gleichen Selbsttäuschungen. Die Lügen, an die im Moment immer jedermann glaubte, waren von Jahr zu Jahr andere gewesen, und sie hatten einander oft widersprochen; auch waren die verschiedenen Teile der Parteihierarchie, die Mitläufer und das Volk nicht unbedingt mit derselben Kombination von Lügen gefüttert worden. Allen aber war zur Gewohnheit geworden, sich selbst zu betrügen, weil dies eine Art moralischer Voraussetzung zum Überleben geworden war; und diese Gewohnheit hat sich so festgesetzt, daß es heute noch, 18 Jahre nach dem Zusammenbruch des Naziregimes, wo doch der spezifische Gehalt jener Lügen so gut wie vergessen ist, manchmal schwerfällt, nicht zu meinen, daß Verlogenheit und Lebenslüge zum integrierenden Bestandteil des deutschen Nationalcharakters gehören. Während des Krieges war die wirksamste Lüge das entweder von Hitler oder von Goebbels geprägte Schlagwort vom »Schicksalskampf des deutschen Volkes« – sie förderte den Selbstbetrug auf dreifache Weise: sie schuf erstens die Illusion, der Krieg sei kein üblicher Krieg; zweitens, er sei nicht von den Deutschen angezettelt, sondern vom Schicksal verhängt worden, und drittens, es ginge in ihm um Leben und Tod des deutschen Volkes, das seine Gegner vernichten müßte, wenn es nicht selbst vom Erdboden verschwinden sollte.
    Eichmanns erstaunliche Bereitwilligkeit – ob in Argentinien oder in Jerusalem –, seine Verbrechen zuzugeben, entstammte weniger einem individuellen verbrecherischen Hang zur Selbsttäuschung als der Aura systematischer Verlogenheit, die im Dritten Reich die allgemeine und allgemein akzeptierte Atmosphäre gebildet hatte. »Selbstverständlich« hatte er eine Rolle bei der Ausrottung der Juden gespielt; »selbstverständlich« wären sie, wenn er »sie nicht transportiert hätte, nicht dem Schlächter ausgeliefert worden«. »Was gibt es da zu ›gestehen‹?« fragte er. Jetzt aber, fuhr er fort, würde er gern »mit [seinen] ehemaligen Gegnern Frieden schließen« – ein Wunsch, den er nicht nur mit Himmler teilte, der ihn während des letzten Kriegsjahres nachdrücklichst verspürt hatte, nicht nur mit dem Leiter der Arbeitsfront, Robert Ley (der vor seinem Selbstmord in Nürnberg auf die Idee kam, daß ein »Versöhnungsausschuß« aus den für die Massaker verantwortlichen Nazis und den jüdischen Überlebenden gebildet werden sollte), sondern unglaublicherweise auch mit vielen gewöhnlichen Deutschen, die bei Kriegsende den gleichen Satz wortwörtlich im Munde führten. Keine Sprachreglung und keine Propaganda hat den Deutschen dies empörende Klischee suggeriert; sie haben es selbst fabriziert, gewissermaßen für den moralischen Hausgebrauch, und es besaß nicht mehr Wirklichkeitsgehalt als jene Klischees, die man dem Volk zwölf Jahre lang von oben verabreicht hatte; es ließ sich förmlich mit Händen greifen, welch »erhebendes Gefühl« die Leute beseelte, wenn sie so daherredeten.
    Eichmann war bis zum Rand mit solchen Sprüchen vollgestopft. Wenn es um Fakten ging, erwies sich sein Gedächtnis als recht unzuverlässig; in einem seiner seltenen Ausbrüche von Entrüstung fragte Richter Landau den Angeklagten: »Woran können Sie sich überhaupt erinnern?« (wenn Sie sich nicht an die Besprechungen der sogenannten Wannsee-Konferenz erinnern können, die verschiedene Tötungspraktiken erörterte), und die Antwort mußte natürlich heißen, daß Eichmann sich recht präzis an die Wendepunkte seiner eigenen Karriere erinnerte, die jedoch nicht notwendig identisch waren mit den Wendepunkten in der Geschichte der Judenvernichtung oder gar mit den Wendepunkten der Weltgeschichte. (Es fiel ihm stets schwer, sich an das genaue Datum des Kriegsausbruchs oder des Angriffs auf Rußland zu erinnern.) Wesentlich ist, daß er nicht eine einzige der Phrasen vergessen hatte, die ihm in der einen oder anderen Situation ein »erhebendes Gefühl« verschafft hatten. Wenn nun die Richter im Kreuzverhör versuchten, sein Gewissen anzusprechen, tönten ihnen diese »erhebenden Gefühle« entgegen, und es entsetzte sie, ebenso wie es sie

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