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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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Stunde, die »positive Seite« seines Charakters hervorzukehren, schlug an jenem Tag in Jerusalem, an dem ihm der junge Polizeioffizier, der für sein geistiges und seelisches Wohlergehen zu sorgen hatte, zur Entspannung »Lolita« in die Hand drückte. Nach zwei Tagen gab Eichmann das Buch mit offener Entrüstung seinem Wärter zurück: »Das ist aber ein sehr unerfreuliches Buch.«) Die Richter hatten zwar recht, als sie dem Angeklagten bei der Urteilsverkündung sagten, alles, was er vorgebracht habe, sei »leeres Gerede« gewesen, aber sie glaubten – zu Unrecht –, daß diese Leere vorgetäuscht war und daß der Angeklagte dahinter Gedanken zu verbergen wünschte, die zwar abscheulich, aber nicht leer waren. Dagegen spricht schon die verblüffende Konsequenz, mit der Eichmann trotz seines eher schlechten Gedächtnisses Wort für Wort die gleichen Phrasen und selbsterfundenen Klischees wiederholte (wenn es ihm einmal gelang, einen wirklichen Satz zu konstruieren, wiederholte er ihn so lange, bis ein Klischee daraus wurde), wann immer die Rede auf Dinge oder Ereignisse kam, die ihm wichtig waren. Ob er nun in Argentinien oder in Jerusalem seine Memoiren schrieb, oh er zu dem verhörenden Polizeibeamten sprach oder vor Gericht – was er sagte, war stets das gleiche. und er sagte es stets mit den gleichen Worten. Je länger man ihm zuhörte, desto klarer wurde einem, daß diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft war. Das heißt hier, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.
    So hatte Eichmann in den acht Monaten, in denen er beinahe täglich einem Juden aus Deutschland beim Verhör gegenübersaß, niemals die geringsten Hemmungen, diesem lang und breit immer wieder auseinanderzusetzen, warum er es trotz größter Anstrengungen und beim besten Willen in der SS zu keinem höheren Rang hatte bringen können: er hatte wirklich alles getan, sogar um eine Versetzung an die Front gebeten: »Jetzt ran an die Front, dann wird der Standartenführer schneller fallen.« (Vor Gericht behauptete er dann zwar, daß er um Versetzung gebeten hätte, weil er seinen Mordpflichten entfliehen wollte, bestand aber nicht weiter auf dieser offenbaren Lüge, und seltsamerweise wurde er im Prozeß mit seinen diesbezüglichen Aussagen zu Hauptmann Less nicht konfrontiert.) Hauptmann Less vertraute er auch an, wie er gehofft hatte, im März 1941 zu den »Einsatzgruppen« an die Ostfront zu kommen, da sein eigenes Büro damals ganz »tot« gewesen war: es gab keine Auswanderungen mehr, und Deportationen waren noch nicht angelaufen. Schließlich erzählte er ihm noch von seinem größten Ehrgeiz – als Polizeichef einer deutschen Stadt abkommandiert zu werden –, woraus auch nichts geworden war. Diese Seiten des Verhörs sind deshalb so komisch, weil all das im Ton eines Menschen vorgebracht wird, der völlig sicher ist, daß er »normales, menschliches« Mitgefühl für all sein Pech finden wird. »Ich weiß es nicht, es ist verhext gewesen, mein Leben, was ich auch plante und was ich auch wollte, hat mir das Schicksal irgendwie verwehrt und hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Egal, was es immer gewesen ist.« Als Hauptmann Less Eichmann über einige für ihn sehr belastende und möglicherweise unwahre Aussagen eines ehemaligen SS-Obersten befragte, rief er plötzlich stotternd vor Wut: »Unfaßlich und undenkbar ist so etwas, unfaßlich und undenkbar. Es ist, es wundert mich sehr, daß dieser Mann SS-Standartenführer gewesen ist – es wundert mich sehr …« Aber niemals sagte er diese Dinge in trotzigem Ton, als wolle er auch jetzt noch einem Juden gegenüber die Maßstäbe verteidigen, nach denen er in der Vergangenheit gelebt hatte. Er brauchte bloß zu hören »SS«, »Laufbahn« oder »Himmler« (dem er stets seinen langen offiziellen Titel gab: Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, obwohl er ihn ganz und gar nicht bewunderte) oder was sonst ihn in die Vergangenheit zurück versetzen mochte, und ein Mechanismus war ausgelöst, der absolut zuverlässig funktionierte. Die Gegenwart von Less, der doch offenbar nicht gut jemals auf die Idee hat kommen

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