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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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weg.«
    Wenig später sollte er etwas noch Entsetzlicheres mit ansehen. Das geschah, als er nach Minsk in Weißrußland geschickt wurde – wiederum von Müller, der ihm sagte: »In Minsk werden die Juden erschossen, möchte Bericht haben, wie das vor sich geht.« Er fuhr also nach Minsk – und zunächst sah es so aus, als werde er glimpflich davonkommen, denn als er ankam,
    »war die Sache schon vorbei, fast vorbei – worüber ich selbst heil froh gewesen hin. Als ich hinkam, sah ich aber gerade noch, wie junge Schützen … mit dem Totenkopf auf den Spiegeln hier in eine Grube schossen … Schossen hinein, und ich sehe noch eine Frau, Arme nach rückwärts, und dann sind auch mir die Knie abgewankt und ich bin weg.«
    Auf der Rückfahrt von Minsk folgte er einem Impuls und hielt in Lemberg an – das schien zuerst ein guter Einfall zu sein, denn als er in der ehemals österreichischen Stadt ankam, sah er »das erste freundliche Bild« nach all dem »Fürchterlichen«, nämlich »das Bahnhofsgebäude, das zur Erinnerung des 60jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josefs errichtet« worden war für diese Epoche hatte er, Eichmann, schon immer geschwärmt, da er in seinem Elternhaus so viel Erfreuliches darüber gehört hatte, unter anderem, wie wohlhabend und angesehen die Verwandten seiner Stiefmutter (er gab zu verstehen, daß es sich um den jüdischen Zweig der Familie handelte) damals gewesen seien. Der Anblick dieses Bahnhofsgebäudes vertrieb die scheußlichen Eindrücke, und noch in Jerusalem konnte er es bis ins kleinste Detail beschreiben, wie schön das Jubiläumsjahr z. B. eingraviert war, und anderes mehr. Aber gerade als er sich im schönen Lemberg so wohl fühlte, beging er den großen Fehler, den örtlichen SS-Befehlshaber aufzusuchen:
    »Ja, sag ich ihm, das ist ja entsetzlich, was da gemacht wird, sag ich, da werden ja die jungen Leute zu Sadisten erzogen … Wie kann man denn? Einfach dahier hineinknallen – auf eine Frau und Kinder? Wie ist denn das möglich? sag ich. Es kann doch nicht. Die Leute müssen entweder wahnsinnig werden oder sie werden Sadisten. Unsere eigenen Leute.«
    Leider stellte sich heraus, daß sie in Lemberg genau dasselbe taten wie in Minsk – sein Gastgeber zeigte ihm diese Sehenswürdigkeiten nur zu gern, obwohl Eichmann aufs dringendste versuchte, sich zu entschuldigen. Aber vergeblich:
    »Da habe ich eine andere furchtbare Sache gesehen. Da war eine Grube gewesen, die war aber schon zu. Da quoll, wie ein Geiser … ein Blutstrahl heraus. Auch so etwas habe ich nie gesehen. Mir reichte der Auftrag, ich bin nach Berlin gefahren und habe dem Gruppenführer Müller das berichtet.«
    Damit nicht genug. Eichmann bat ihn zwar: »Schicken Sie doch jemand anderen hin. Jemand robusteren … Ich war nie Soldat. Es gibt doch genügend andere, die können das sehen. Die kippen nicht aus den Latschen. Ich kann’s nicht sehen, sagte ich. In der Nacht kann ich nicht schlafen. Ich träume – ich kann’s nicht, Gruppenführer. Wurde aber nicht gemacht.«
    Sondern neun Monate später schickte Müller ihn wieder in die Lubliner Gegend, wo der überaus emsige Globocnik inzwischen seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte. Und dies, sagte Eichmann, sei nun definitiv der entsetzlichste Anblick seines Lebens gewesen: als er ankam, konnte er den Ort, an dem seinerzeit ein paar Holzbaracken gestanden hatten, zunächst gar nicht wiedererkennen. Statt dessen geleitete ihn derselbe Mann mit der ordinären Stimme zu einem Bahnhofsgebäude mit dem Stationsschild »Treblinka«, das genauso aussah wie eine beliebige Eisenbahnstation irgendwo in Deutschland – die gleichen Stations- und Nebengebäude, Signale, Uhren und Anlagen: eine genaue Kopie.
    »Ich habe dort mich weit zurückgehalten. Ich bin nicht mehr rangegangen, um das alles zu sehen! Habe gesehen, wie dort durch Laufstege, die mit Stacheldraht eingefaßt waren, eine Kolonne von nackten Juden in ein Haus nach vorne … ein saalähnliches Gebäude gegangen sind, zum Vergasen. Dort aber wurden sie, soviel man mir erzählt hat, mit – wie heißt dieses – Zyan … Zyankali oder – Säure …«
    Eichmann hat also tatsächlich gar nicht viel gesehen. Zwar hat er verschiedentlich das größte und berüchtigtste Todeslager Auschwitz besucht, aber das Konzentrationslager Auschwitz in Oberschlesien, das sich über eine Fläche von 40 qkm ausdehnte, war keineswegs nur ein Vernichtungslager. Es war ein Riesenunternehmen mit annähernd 100

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