Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
»Sonderbehandlung«. Die Deportation wurde – soweit sie nicht Juden betraf, die nach Theresienstadt, dem »Altersgetto« für privilegierte Juden, geleitet wurden, was man als »Verlegung des Wohnsitzes« bezeichnete – mit der Nomenklatur »Umsiedlung« und »Arbeitseinsatz im Osten« belegt, woran immerhin so viel stimmte, als tatsächlich Juden vorübergehend in Gettos umgesiedelt wurden und daß ein bestimmter Prozentsatz von ihnen vorübergehend als Arbeitskräfte verwendet wurde. Besondere Umstände verlangten zuweilen, daß die Sprachreglung geringfügig abgewandelt wurde. So schlug z. B. ein hoher Beamter des Auswärtigen Amtes einmal vor, im Schriftverkehr mit dem Vatikan für das Töten von Juden die Formel »radikale Lösung« zu gebrauchen – ein raffiniertes Manöver, denn die katholische Marionettenregierung der Slowakei, mit der sich der Vatikan in Verbindung gesetzt hatte, war im Sinne der Nazis bei ihrer Judengesetzgebung gerade nicht »radikal genug« gewesen, hatte sie doch den »fundamentalen Irrtum« begangen, bei getauften Juden Ausnahmen gelten zu lassen. In ungetarnter Sprache konnten die »Geheimnisträger« nur reden, wenn sie unter sich waren, und daß sie das im alltäglichen Verlauf ihrer mörderischen Pflichten wirklich getan haben sollten, ist höchst unwahrscheinlich – ganz gewiß nicht in Gegenwart ihrer Sekretärinnen und anderer Büroangestellter. Denn aus welchen anderen Gründen die Sprachreglung auch immer erfunden worden war, ihre Anwendung erwies sich als sehr nützlich zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung unter den zahlreichen Mitgliedern der verschiedenen Organisationen und Ämter, deren Mitarbeit bei dieser Aktion unentbehrlich war. Im übrigen war natürlich der Begriff »Sprachreglung« selbst bereits ein Euphemismus, er bezeichnete einfach das, was man gewöhnlich Lüge nennt. Wenn nämlich ein »Geheimnisträger« mit Menschen aus der Außenwelt zusammentreffen mußte – Eichmann z. B., als er den schweizerischen Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes das Getto von Theresienstadt zeigen sollte –, dann erhielt er zugleich mit dem Auftrag die jeweilige »Sprachreglung«, die im erwähnten Fall darin bestand, den Schweizern, die auch noch das Konzentrationslager Bergen-Belsen besichtigen wollten, einzureden, dort herrsche eine Typhusepidemie. Im Endeffekt sollte dieses System von Sprachreglungen die Vernichtungsexperten nicht etwa blind machen für die Natur ihrer Tätigkeit, wohl aber verhindern, daß sie sie mit ihren alten, »normalen« Vorstellungen von Mord und Lüge gleichsetzten. Eichmanns große Anfälligkeit für Schlagworte und Phrasen und seine Unfähigkeit, sich normal auszudrücken, machten ihn natürlich zu einem idealen Objekt für »Sprachreglungen«.
Hermetisch abgedichtet war dieses System gegen Einbrüche aus der Wirklichkeit freilich nicht, wie Eichmann nur zu bald erfahren sollte. Erfuhr im Auftrag Heydrichs nach Lublin und gebrauchte dort laut Sprachreglung das Wort »Endlösung«, wohl um sich mit diesem Kennwort als »Geheimnisträger« und Beauftragter Heydrichs auszuweisen. Denn SS-Brigadeführer Globocnik, ehemaliger Gauleiter von Wien, wußte natürlich bereits Bescheid, und Eichmanns Auftrag bestand keineswegs darin, ihm »persönlich den Geheimbefehl für die physische Vernichtung der Juden zu überbringen«, wie die Anklage irrtümlich annahm. Wie wenig die Anklage sich in dem bürokratischen Labyrinth des Dritten Reiches auskannte, zeigte sich vielleicht noch deutlicher in der Behauptung, auch Höß, der Kommandant von Auschwitz, habe den Führerbefehl zur »Endlösung« von Eichmann erhalten. In diesem Fall monierte die Verteidigung, daß dies »durch andere Beweismittel nicht gestützt« sei. Höß, dessen Aussagen die Anklage in anderen Punkten sehr ernst nahm, hatte nämlich in seinem eigenen Prozeß in Polen ausgesagt, daß er den Befehl direkt von Himmler empfangen und daß Eichmann mit ihm nur gewisse »Einzelheiten« besprochen habe. In seinen Memoiren hat Höß dann behauptet, es habe sich bei den Einzelheiten um »Gasgeschichten« gehandelt – was Eichmann heftig bestritt. Vermutlich zu Recht, da alle anderen Quellen dieser Darstellung widersprechen. (Für die Frage der Zuverlässigkeit der Aussagen von Höß siehe auch R. Pendorf: »Mörder und Ermordete«, Hamburg 1961.) Eichmann hatte mit der Anwendung von Gas in den Vernichtungslagern vermutlich nichts zu tun, und die Vernichtungsbefehle wurden den
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