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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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stoßen mußte, wenn sie sich über ganz Europa, über alle von den Nazis besetzten und mit ihnen verbündeten Länder erstreckte. Fügsamkeit allein hätte das Gewissen der Täter nicht beruhigen können, denn das waren immerhin Leute, die nach dem Gebot »Du sollst nicht töten« erzogen worden waren und die den Bibelvers »Du hast totgeschlagen, dazu auch in Besitz genommen« kannten, den das Urteil des Jerusalemer Gerichts so treffend zitierte. Wenn Eichmann von dem »Todeswirbel« sprach, der nach den ungeheuren Verlusten bei Stalingrad über Deutschland hereinbrach, meinte er das Flächenbombardement deutscher Städte, das in seinen Augen ein für allemal die Ermordung von Zivilisten rechtfertigte und übrigens in Deutschland noch heute als gängiger Entschuldigungsgrund für die Massaker benutzt wird. Die ununterbrochenen Bombenangriffe machten tatsächlich das Grauen zur Alltagserfahrung und zum Alltagsanblick – andersartig, jedoch nicht weniger grauenvoll als die in Jerusalem berichteten Greueltaten. All das hätte wohl das Seine dazu beigetragen, Gewissensregungen zu besänftigen oder vielmehr zum Schweigen zu bringen, wenn es so etwas wie ein Gewissen bei den Beteiligten damals überhaupt noch gegeben hätte, was nach den vorliegenden Beweisen zweifelhaft ist. Denn längst ehe der Schrecken des Krieges das Deutsche Reich selber traf, war die Vernichtungsmaschinerie geplant und in all ihren Details perfekt ausgearbeitet worden, und ihre komplizierte Bürokratie funktionierte mit der gleichen unbeirrbaren Präzision in dem Siegestaumel der ersten Jahre wie in den letzten Jahren des »Todeswirbels« und der Niederlagen. Sabotage oder Desertionen aus den Reihen der herrschenden Elite und vornehmlich bei den Höheren SS-Führern kamen gerade zu Beginn der Aktion, als die Leute noch ein Gewissen haben mochten, kaum vor; solche Erscheinungen machten sich erst bemerkbar, als offensichtlich geworden war, daß Deutschland den Krieg verlieren würde. Auch dann waren sie niemals umfangreich genug, die ganze Maschinerie aus dem Takt zu bringen; sie waren Aktionen einzelner, die nicht aus Erbarmen handelten, sondern korrumpiert waren, die nicht von ihrem Gewissen getrieben wurden, sondern von dem Wunsch, sich für die bevorstehenden dunklen Zeiten mit Geld und guten Beziehungen einzudecken. Himmlers Befehl vom Herbst 1944, die Vernichtungen zu stoppen und die Anlagen in den Todeslagern zu beseitigen, entsprang seiner absurden, doch ernstgemeinten Überzeugung, die Alliierten würden diese entgegenkommende Geste zu würdigen wissen. Vor einem sehr ungläubigen Eichmann malte Himmler sich aus, wie er auf dieser Basis einen »Hubertusburger Frieden« aushandeln könnte, in dem er, wie weiland Friedrich II. nach dem Siebenjährigen Krieg Schlesien für Preußen, die wichtigsten Eroberungen des Krieges für das Reich würde retten können.
    So wie Eichmann die Dinge darstellte, hat kein Faktor so wirksam zur Beruhigung seines Gewissens beigetragen wie die schlichte Tatsache, daß er weit und breit niemanden, absolut niemanden entdecken konnte, der wirklich gegen die »Endlösung« gewesen wäre. Mit einer einzigen Ausnahme, die er mehrfach erwähnte und die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben muß: nämlich Dr. Kastner, dem er in Ungarn begegnete. Mit ihm hatte Eichmann über Himmlers Angebot verhandelt, eine Million Juden im Austausch gegen 10 000 Lastwagen freizulassen. Kastner, durch die neue Entwicklung offensichtlich kühn geworden, bat Eichmann: »Stoppen Sie die Todesmühlen in Auschwitz!« Eichmann antwortete, er würde das »herzlich gern« tun, doch läge das leider außerhalb seiner Kompetenz und auch außerhalb der Kompetenz seiner Vorgesetzten – was ja auch stimmte. Natürlich verlangte er nicht, daß die Juden selbst die allgemeine Genugtuung über ihre Vernichtung teilten, aber mehr als bloßes Sich-Fügen verlangte er zweifellos, er verlangte Kooperation – und erhielt sie in wahrhaft erstaunlichem Maße. Daß er die jüdischen Funktionäre auch jetzt noch dazu bewegen konnte, »mitzuarbeiten«, war das A und O seiner Organisations- und Verhandlungskünste, wie es bereits bei seiner Tätigkeit in Wien der Fall gewesen war. Ohne diese Hilfe bei Verwaltungs- und Polizeimaßnahmen – die endgültige Festnahme der Juden in Berlin lag, wie bereits erwähnt, ausschließlich in den Händen von jüdischer Polizei – wäre entweder das völlige Chaos ausgebrochen, oder man hätte mehr deutsche

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