Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Opposition gegen Hitler standen und deren Haltung in der jüdischen Frage stets unzweideutig war. Es bestand alle Aussicht, daß er, da Eichmann verschiedene Male mit ihm verhandelt hatte, ein großartiger Zeuge sein würde, und sein bloßes Erscheinen im Gerichtssaal war eine Art Sensation. Leider entbehrte seine Aussage aller Präzision; er erinnerte sich nach so vielen Jahren weder genau daran, wann er mit Eichmann gesprochen hatte, noch – was schwerwiegender war – worüber. Genau behalten hatte er lediglich, daß er einmal darum gebeten hatte, zum Passahfest ungesäuertes Brot nach Ungarn schicken zu dürfen, und daß er zu Beginn des Krieges nach der Schweiz gereist war, um seinen christlichen Freunden dort die Gefährlichkeit der Situation vor Augen zu führen und auf mehr Einwanderungsmöglichkeiten zu drängen. (Die Verhandlungen müssen vor Bekanntgabe der »Endlösung« stattgefunden haben, die mit Himmlers Verbot aller Auswanderung zusammenfiel.) Er bekam sein ungesäuertes Brot, und er kam sicher in die Schweiz und wieder zurück. Seine Schwierigkeiten fingen später an, als die Deportationen begonnen hatten. Propst Grüber und andere protestantische Pfarrer, die der Bekennenden Kirche angehörten, intervenierten zunächst nur zugunsten von »Menschen, die im ersten Weltkrieg schwer verwundet waren, die im ersten Weltkrieg hohe militärische Auszeichnungen bekommen hatten, dann [handelte es sich] auch um sehr alte Leute, auch um Witwen von Gefallenen«. Diese Kategorien entsprachen denjenigen, bei denen ursprünglich die Nazis selber Ausnahmen gemacht hatten. Daher warf man Grüber auch nur vor, er »hätte unerlaubterweise gegen Maßnahmen der Regierung und der Partei protestiert«, aber ließ ihn sonst unbehelligt. Kurz darauf tat Propst Grüber jedoch etwas wirklich Außerordentliches: er versuchte, das Konzentrationslager Gurs in Südfrankreich zu erreichen, wo die Vichy-Regierung zusammen mit jüdischen Emigranten aus Deutschland über 7500 Juden aus Baden und der Saarpfalz interniert hatte, die Eichmann im Herbst 1940 über die deutsch-französische Grenze geschmuggelt hatte; diese Juden waren nach Informationen, die Propst Grüber erreicht hatten, noch schlimmer dran als die nach Polen deportierten Juden. Dieses Versuchs wegen wurde er verhaftet und ins Konzentrationslager gesteckt – zuerst nach Sachsenhausen und dann nach Dachau. (Ein ähnliches Schicksal widerfuhr dem Dompropst Bernard Lichtenberg von der St.-Hedwigs-Kathedrale in Berlin; er wagte nicht allein, öffentlich für alle Juden zu beten, getaufte und ungetaufte – was wesentlich gefährlicher war, als für »besondere Fälle« zu intervenieren –, sondern er verlangte darüber hinaus, einen der jüdischen Transporte auf ihrem Weg nach dem Osten zu begleiten. Er starb auf dem Weg in ein Konzentrationslager.)
Abgesehen davon, daß er die Existenz des »anderen Deutschland« bezeugte, trug Propst Grüber nicht viel zur rechtlichen oder historischen Bedeutung des Prozesses bei. Seine Urteile über Eichmann waren konventionell – ein »Eisblock«, wie aus »Marmor«, eine »Landsknechtsnatur«, ein »Radfahrer« – ohne nähere psychologische Einsicht, ganz abgesehen davon, daß dem »Radfahrer«-Vorwurf Beweismaterial widersprach, demzufolge es nicht zu Eichmanns Gepflogenheiten gehört hat, seine Untergebenen schlecht zu behandeln. Auf jeden Fall waren dies Interpretationen und Schlußfolgerungen, die aus jedem normalen Gerichtsprotokoll gestrichen worden wären – in Jerusalem allerdings fanden sie sich selbst noch im Wortlaut des Urteils wieder. Ohne Interpretationen und Schlußfolgerungen, die in eine Zeugenaussage nicht gehören, hätte Propst Grübers Aussage eher der Verteidigung dienen können, denn Eichmann hatte bewilligt, was er bewilligen konnte, das ungesäuerte Brot, die Reise in die Schweiz, und er hatte zudem Grüber niemals eine direkte Antwort gegeben, sondern ihn stets aufgefordert wiederzukommen, da er erst Instruktionen einholen müsse. Wichtiger noch war eine höchst belangvolle Frage von Dr. Servatius, der endlich einmal die Initiative ergriff
»Haben Sie nun auf ihn eingewirkt und ihm einmal energisch vorgehalten, daß sein Verhalten nicht der Moral entspreche und daß es unmoralisch und unsittlich sei?«
Aber der Propst, ein mutiger Mann, hatte natürlich nichts dergleichen getan, und seine nachträgliche Begründung wirkte eher peinlich. Er sagte: »Taten sind wichtiger als Worte«, und meinte:
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