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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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»Worte wären nutzlos gewesen«, kurz Allgemeinheiten, die nichts mit der Realität einer Situation zu tun hatten, in der »bloße Worte« bereits Taten gewesen wären und in der es vielleicht zu den Pflichten des Seelsorgers gehört hätte, die »Nutzlosigkeit von Worten« auf die Probe zu stellen.
    Genauer noch als die Frage von Dr. Servatius traf den Sachverhalt, was Eichmann selbst in seinem Schlußwort vor Gericht über diese Episode sagte: »Niemand«, wiederholte er, »ist an mich herangetreten und hat mir Vorhaltungen gemacht wegen meiner Amtstätigkeit. Dies behauptet selbst der Zeuge Propst Grüber nicht von sich. Er kam zu mir und wünschte nur Erleichterung, ohne sich gegen meine Amtstätigkeit selbst zu wenden.« Nach seiner eigenen Aussage scheint Propst Grüber weniger um »Erleichterung« des allgemeinen Leidens ersucht zu haben als um Ausnahmen, die sich im Rahmen der früher von den Nazis anerkannten Kategorien bevorzugter Juden hielten. Diese Kategorien waren von dem deutschen Judentum von Anbeginn ohne Protest akzeptiert worden. Und mit dem Akzeptieren von Privilegien für deutsche Juden gegenüber Ostjuden, für Kriegsteilnehmer und Juden mit Orden gegenüber gewöhnlichen Juden, für Familien, deren Vorfahren in Deutschland geboren waren, gegenüber Zugewanderten und Naturalisierten fing der moralische Zusammenbruch des deutsch-jüdischen Bürgertums an. (Angesichts der Tatsache, daß diese Dinge heute oft so behandelt werden, als sei es das Natürlichste von der Welt, sich in katastrophalen Situationen unwürdig zu benehmen, sei an die Haltung der jüdischen Kriegsteilnehmer Frankreichs erinnert, die, als ihre Regierung ihnen die gleichen Privilegien anbot, erwiderten: »Wir erklären feierlich, daß wir alle besonderen Vorteile zurückweisen, die uns aus unserem Status als ehemalige Soldaten erwachsen mögen« [»American Jewish Yearbook«, 1945].) Daß die Nazis selbst diese Unterscheidungen niemals ernst nahmen, versteht sich von selbst; für sie war ein Jude ein Jude, doch die Kategorien spielten bis zum Schluß insofern eine Rolle, als sie ein gewisses Unbehagen in der deutschen Bevölkerung besänftigten: es wurden ja nur polnische Juden deportiert, nur Leute, die sich vor dem Wehrdienst gedrückt hatten, und so weiter. Für diejenigen, die sehen wollten, mußte von Anfang an klar sein, daß es »allgemeine Praxis war, gewisse Ausnahmen zuzulassen, um die allgemeine Regel desto leichter aufrechterhalten zu können« (in den Worten von Louis de Jong in einem aufschlußreichen Artikel über »Jews and Non-Jews in Nazi-Occupied Holland«).
    Moralisch war dies Akzeptieren von privilegierten Kategorien deshalb so verhängnisvoll, weil jeder, der für seinen Fall eine »Ausnahme« beanspruchte, damit indirekt die Regel anerkannte, doch offenbar hat keiner von denen, die, ob Juden oder Nichtjuden, zweifellos das Beste wollten, wenn sie sich für »Sonderfälle« einsetzten, bei denen die Bitte um Vorzugsbehandlung zulässig war, dies jemals begriffen. Nichts wirft wohl ein so grelles Licht auf das Ausmaß, in dem selbst die jüdischen Opfer die noch bei der »Endlösung« geltenden Kategorien akzeptierten, wie der in Deutschland veröffentlichte Kastner-Bericht, aus dem hervorgeht, daß Kastner sogar nach Beendigung des Krieges noch stolz auf seinen Erfolg bei der Rettung »prominenter Juden« war, einer von den Nazis offiziell 1942 eingeführten Kategorie – als verstünde es sich auch seiner Meinung nach von selbst, daß ein berühmter Jude mehr Recht darauf hatte, am Leben zu bleiben, als ein gewöhnlicher. »Prominente oder Meterware«, in den von Kastner berichteten Worten des SS-Standartenführers Kurt Becher, das war die Frage. Und wenn er den Herren von der SS dabei half, die Berühmten aus der anonymen Masse auszusortieren, so hatte er seiner Meinung nach nur die wirklichen Interessen des jüdischen Volkes vertreten. Denn: »Mehr als Mut zum Tod hieß es Mut zur Verantwortung zu haben.« Wozu nur zu bemerken ist, daß dieser »Mut zur Verantwortung« mit der berechtigten Hoffnung gekoppelt war, den »Mut zum Tode« nicht unter Beweis stellen zu müssen. Wenn auch die jüdischen und nichtjüdischen Befürworter von »Sonderfällen« sich ihrer unfreiwilligen Komplizität nicht bewußt gewesen sein mögen, denjenigen, die das Mordgewerbe betrieben, kann diese indirekte stillschweigende Anerkennung der Regel, die eben für alle nicht-besonderen Fälle den Tod bedeutete, nicht entgangen

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