Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
gleichgeschaltet werden konnte, die Parteien und die internationalen Wohlfahrtsorganisationen. Von Polen bis Holland und Frankreich, von Skandinavien bis zum Balkan gab es anerkannte jüdische Führer, und diese Führerschaft hat fast ohne Ausnahme auf die eine oder andere Weise, aus dem einen oder anderen Grund mit den Nazis zusammengearbeitet. Wäre das jüdische Volk wirklich unorganisiert und führerlos gewesen, so hätte die »Endlösung« ein furchtbares Chaos und ein unerhörtes Elend bedeutet, aber angesichts des komplizierten bürokratischen Apparats, der für das »Auskämmen« von Westen nach Osten notwendig war, wäre das Resultat nur in den östlichen Gebieten, die ohnehin der Kompetenz der »Endlöser« nicht unterstanden, gleich schrecklich gewesen, und die Gesamtzahl der Opfer hätte schwerlich die Zahl von viereinhalb bis sechs Millionen Menschen erreicht. (Nach Freudigers Rechnung hätte etwa die Hälfte sich retten können, wenn sie den Anweisungen des Judenrats nicht gefolgt wäre. Dies ist natürlich eine leere Schätzung, aber man wird doch nachdenklich, wenn man sieht, daß sie mit annähernd exakten Zahlen übereinstimmt, die wir aus Holland haben und die ich der Freundlichkeit von Herrn Dr. L. de Jong verdanke, dem Leiter des Niederländischen Staatlichen Instituts für Kriegsdokumentation. In Holland nämlich, wo der Joodsche Rad sehr rasch wie alle anderen holländischen Behörden zu einem »Werkzeug der Nazis« wurde, sind insgesamt 103 000 Juden auf die übliche Weise, also unter Mitarbeit des Judenrats, deportiert worden. Von ihnen sind 519 übriggeblieben. Hingegen sind von den etwa 20 000 – 25 000 Juden, die sich dem Zugriff der Nazis, und das hieß auch des Judenrats, entzogen und untertauchten, immerhin 10 000 am Leben geblieben.)
Mein Bericht hat sich bei diesem Kapitel aufgehalten, das der Jerusalemer Prozeß der Welt nicht in seinem wahren Ausmaß vor Augen führte, weil es den tiefsten Einblick in die Totalität des moralischen Zusammenbruchs gewährt, den die Nazis in allen, vor allem auch den höheren Schichten der Gesellschaft ganz Europas verursacht haben – nicht allein in Deutschland, sondern in fast allen Ländern, nicht allein unter den Verfolgern, sondern auch unter den Verfolgten. Eichmann hatte, im Gegensatz zu anderen Elementen in der Nazibewegung, vor der »guten Gesellschaft« stets den größten Respekt, und wenn er deutsch sprechenden jüdischen Funktionären nicht selten höflich gegenübertrat, dann vornehmlich in dem Bewußtsein, daß seine Gesprächspartner ihm gesellschaftlich überlegen waren. Er war ganz und gar nicht eine »Landsknechtsnatur«, als die ihn einer der Zeugen hinstellte, er war kein Abenteurer, kein Zyniker, kein Nihilist. Das Kredo, an das er inbrünstig und bis zu seinem Ende glaubte, war der »Erfolg«, der Wertmaßstab dessen, was er als »gute Gesellschaft« kannte. Ganz typisch dafür ist sein Resümee zum Thema Adolf Hitler, den Sassen und er aus ihrer Geschichte »herauszuhalten« beschlossen. Hitler, so sagte Eichmann,
»mag hundertprozentig unrecht gehabt haben, aber eins steht jenseits aller Diskussion fest: der Mann war fähig, sich vom Gefreiten der deutschen Armee zum Führer eines Volkes von fast 80 Millionen emporzuarbeiten … Sein Erfolg allein beweist mir, daß ich mich ihm unterzuordnen hatte«.
Es hat ihn wie andere »beglückt, daß ein ›Mann aus dem Volk‹, der Sohn eines Zollbeamten, es vermocht hatte, sich an die Spitze des Volkes zu stellen«. Und auch ihm dürfte sich in dieser Karriere sein »höchstes Ideal: die Volksgemeinschaft«, symbolisiert haben (Melitta Maschmann, »Fazit«, Stuttgart 1963). Sein Gewissen konnte sich um so leichter beruhigen, als er ja sah, mit welcher Beflissenheit und welchem Eifer die »gute Gesellschaft« allenthalben genauso reagierte wie er. Er brauchte nicht, wie es im Urteil hieß, »sein Ohr der Stimme des Gewissens zu verschließen«, nicht, weil er keins gehabt hätte, sondern weil die Stimme des Gewissens in ihm genauso sprach wie die Stimme der Gesellschaft, die ihn umgab.
Daß von außen keine Stimme zu ihm gedrungen sei, um sein Gewissen aufzurütteln, war eine von Eichmanns Rechtfertigungen, und der Anklage oblag der Nachweis, daß dem nicht so war, daß es sehr wohl Stimmen gab, auf die er hätte hören können, und daß er jedenfalls seine Arbeit mit sehr viel größerem Eifer getan habe, als die Pflicht es verlangte, was in der Tat nur zu sehr zutraf. Und
Weitere Kostenlose Bücher