Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
behandelt. Der Hinweis erübrigt sich, daß sich das juristische Drum und Dran, weit entfernt davon, ein bloßes Symptom deutscher Pedanterie oder Gründlichkeit zu sein, als höchst wirksam erwies, indem es der ganzen Angelegenheit ihren äußeren Anschein von Legalität verlieh.
Denn so wie das Recht in zivilisierten Ländern von der stillschweigenden Annahme ausgeht, daß die Stimme des Gewissens jedermann sagt: »Du sollst nicht töten«, gerade weil vorausgesetzt ist, daß des Menschen natürliche Begierden unter Umständen mörderisch sind, so verlangte das »neue« Recht Hitlers, daß die Stimme des Gewissens jedermann sage: »Du sollst töten«, und zwar unter der ausdrücklichen Voraussetzung, daß des Menschen normale Neigungen ihn keineswegs unbedingt zum Mord treiben. Im Dritten Reich hatte das Böse die Eigenschaft verloren, an der die meisten Menschen es erkennen – es trat nicht mehr als Versuchung an den Menschen heran. Viele Deutsche und viele Nazis, wahrscheinlich die meisten, haben wohl die Versuchung gekannt, nicht zu morden, nicht zu rauben, ihre Nachbarn nicht in den Untergang ziehen zu lassen (denn daß die Abtransportierung der Juden den Tod bedeutete, wußten sie natürlich, mögen auch viele die grauenhaften Einzelheiten nicht gekannt haben) und nicht , indem sie Vorteile davon hatten, zu Komplicen all dieser Verbrechen zu werden. Aber sie hatten, weiß Gott, gelernt, mit ihren Neigungen fertigzuwerden und der Versuchung zu widerstehen.
IX Die Deportation aus dem Reich: Deutschland, Österreich und das Protektorat
Zwischen der Wannsee-Konferenz vom Januar 1942, nach der Eichmann, ein neuer Pontius Pilatus, sich die Hände in Unschuld wusch, und Himmlers Befehlen vom Sommer und Herbst 1944, als die »Endlösung« hinter Hitlers Rücken einfach fallengelassen wurde, als wären die Massenmorde nichts weiter als ein bedauerlicher Irrtum gewesen, ist Eichmann von Gewissensfragen nicht geplagt worden. In diesem Zeitraum ist es ihm in der Tat nie eingefallen, sich »in die Nesseln einer eigenen Entscheidung zu setzen«, und er hatte nichts anderes im Kopf als die schwindelerregende Organisations- und Verwaltungsaufgabe, die er nicht allein inmitten eines Weltkriegs bewältigen sollte, sondern, was ihn noch mehr in Atem hielt, inmitten zahlloser Intrigen und Kompetenzstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Staatsbehörden und Parteidienststellen, die alle »die Lösung der Judenfrage« mit Eifer betrieben. Seine Hauptrivalen waren die Höheren SS- und Polizeiführer, die unter Himmlers direktem Kommando standen, zu diesem leicht Zugang hatten und sämtlich höhere Dienstgrade besaßen als Eichmann. Dann war da das Auswärtige Amt, das unter seinem neuen Staatssekretär Dr. Martin Luther, einem Protegé Ribbentrops (Luther suchte Ribbentrop 1943 durch eine kunstreiche Intrige auszubooten, zog jedoch den kürzeren und starb in einem Konzentrationslager; unter seinem Nachfolger wurde Legationsrat Eberhard von Thadden, ein Entlastungszeuge beim Jerusalemer Prozeß, Referent für Judenangelegenheiten), lebhafte Aktivität in jüdischen Angelegenheiten entfaltete; gelegentlich erließ das Auswärtige Amt Deportationsanweisungen an seine Vertreter im Ausland, die aus Prestigegründen den Weg über die Höheren SS- und Polizeiführer vorzogen. Weiterhin war mit den Wehrmachtskommandeuren in den besetzten Ostgebieten zu rechnen, die Probleme gern »an Ort und Stelle«, und das hieß durch Erschießen, erledigten; in den westlichen Ländern dagegen zeigten sich die Militärs stets abgeneigt, an der »Lösung« mitzuarbeiten und ihre Soldaten für das Zusammentreiben und Verhaften von Juden auszuleihen. Und schließlich hatte man es mit den Gauleitern zu tun, die alle darauf aus waren, den ersten »judenfreien« Gau vorzuweisen, und die manchmal von sich aus Deportationsmaßnahmen in Gang setzten.
Eichmann mußte all diese »Bemühungen« unter ein Dach bringen, mußte einigermaßen Ordnung in die von ihm als »vollkommenes Chaos« bezeichnete Situation bringen, in der jeder seine eigenen Befehle ausgegeben und getan habe, was ihm paßte. Und in der Tat gelang es ihm, sich eine, allerdings nie vollkommen sichere, Schlüsselstellung in dem ganzen Prozeß zu verschaffen, weil bei seinem Amt die »Erstellung des Fahrplans« und die Organisation der Transportmittel lag. Nach der Auskunft von Dr. Rudolf Mildner, dem Gestapoführer für Oberschlesien (wo Auschwitz lag) und späteren Chef der
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