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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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der unbesetzten Zone Frankreichs transportiert; das war damals ein offener Affront der Franzosen, denn das deutsch-französische Waffenstillstandsabkommen sah nirgendwo vor, Frankreich zum Schuttabladeplatz für Juden zu machen. Eichmann mußte diesen Zug selber begleiten, um den französischen Stationsvorsteher an der Grenze davon zu überzeugen, daß es sich um einen »deutschen Militärtransport« handle.
    Diese beiden Operationen waren offenbar improvisiert, jedenfalls gingen sie ganz ohne die sorgfältige gesetzliche »Untermauerung« vor sich, die später unabdingbar der Katastrophe voranging. Noch gab es kein Gesetz, das Juden ihre Staatsbürgerschaft entzog, sobald sie aus dem Reich deportiert wurden, und anstelle der vielen Formulare über ihren Besitz, die später zur Regelung der Beschlagnahme auszufüllen waren, unterzeichneten die Stettiner Juden einfach eine generelle Verzichterklärung, die alles einschloß, was sie besaßen. Offensichtlich sollte mit diesen ersten Aktionen nicht der Verwaltungsapparat ausprobiert werden. Die Absicht scheint vielmehr gewesen zu sein, die allgemeinen politischen Voraussetzungen zu sondieren – ob man die Juden dazu bringen könnte, mitten in der Nacht, mit einem kleinen Handkoffer, ohne irgendwelche Vorankündigung auf eigenen Füßen in den Untergang zu gehen; wie die Reaktion der Nachbarn sein würde, wenn sie am Morgen die leeren Wohnungen nebenan entdeckten; und vor allem sollte sich wohl im Fall der badischen Juden zeigen, wie eine fremde Regierung reagieren würde, wenn man ihr plötzlich Tausende von jüdischen »Flüchtlingen« präsentierte. Und all das hatte sich, soweit die Nazis sehen konnten, höchst zufriedenstellend abgewickelt. In Deutschland gab es ein paar Interventionen für »besondere Fälle« – z. B. für den Dichter Alfred Mombert, ein Mitglied des Stefan-George-Kreises, dem die Ausreise nach der Schweiz genehmigt wurde –, aber die breite Bevölkerung verhielt sich gleichgültig. (Damals wahrscheinlich hat Heydrich erkannt, wie wichtig es sein würde, Juden mit guten Beziehungen von den anonymen Massen zu trennen, und mit Hitlers Genehmigung für solche besonderen Fälle Theresienstadt und Bergen-Belsen – als »Altersgetto« und als »Austauschlager« – einzurichten beschlossen.) In Frankreich verlief die Sache sogar noch befriedigender: die Vichy-Regierung steckte die neuen »Flüchtlinge« kurzerhand in das berüchtigte Konzentrationslager Gurs am Fuß der Pyrenäen, dessen Baracken ursprünglich für die flüchtende republikanische Armee aus dem Spanischen Bürgerkrieg im Jahre 1939 gebaut worden und seit dem Mai 1940 zur Internierung des weiblichen Teils der sogenannten »réfugiés provenant d’Allemagne«, die natürlich zum größten Teil Juden waren, benutzt worden waren. (Als die »Endlösung« in Frankreich in Kraft trat, wurden alle Insassen des Lagers Gurs nach Auschwitz gebracht.) Die Nazis, die zu Verallgemeinerungen neigten, sahen in dem Verhalten der Vichy-Regierung den klaren Beweis dafür, daß Juden überall »unerwünscht« waren und daß jeder Nichtjude, wenn nicht ausdrücklich, so doch potentiell, ein Antisemit ist. Kein Hahn würde danach krähen, wenn sie das Problem »radikal« anpackten, man konnte ja sehen, wie andere die Juden behandelten! Immer noch im Banne solcher Kurzschlüsse, äußerte sich Eichmann in Jerusalem sehr bitter darüber, daß kein Land zur Aufnahme von Juden bereit gewesen sei und daß dies, ja dies allein die große Katastrophe verursacht habe. Als ob die fest strukturierten europäischen Nationalstaaten anders reagiert hätten, wenn irgendeine andere Gruppe von Ausländern plötzlich in Scharen vor ihren Toren gestanden hätte – ohne Geld, ohne Papiere, ohne Kenntnisse der Landessprache! Zum unaufhörlichen Erstaunen der Nazibeamten über einen so frappanten Mangel an Logik waren sogar überzeugte Antisemiten in anderen Ländern nicht bereit, die »Konsequenz« aus ihrer Gesinnung zu ziehen, sondern zeigten eine »bedauerliche« Tendenz, vor »radikalen« Maßnahmen zurückzuschrecken. Nur wenige haben das so unverblümt ausgedrückt wie ein Mitglied der spanischen Botschaft in Berlin – »wenn man nur sicher sein könnte, daß sie nicht ermordet würden«, sagte er mit Bezug auf 600 Juden, die, ohne je in Spanien gewesen zu sein, auf Grund ihrer spanischen Abstammung spanische Pässe bekommen hatten und die die Franco-Regierung eigentlich gern unter deutsche Jurisdiktion gebracht

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