Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Chai« gestanden: das Volk Israel wird leben; einzelne Juden, ganze jüdische Familien mochten in Pogromen umkommen, ganze Gemeinden mochten ausgelöscht werden, aber das Volk würde fortleben. Mit Völkermord waren sie nie konfrontiert worden. Zudem hatte, wenigstens in Westeuropa, die alte Vorstellung von der Unsterblichkeit des Volkes an Trostkraft erheblich eingebüßt. Seit dem römischen Altertum, also seit Beginn der europäischen Geschichte, hatten die Juden auf Gedeih und Verderb, im Glanz und im Elend zur europäischen Völkerfamilie gehört; doch erst während der letzten 150 Jahre hatte das Gedeihen so sehr überwogen, waren die Gelegenheiten zum Glänzen so zahlreich geworden, daß man sie in Mittel- und Westeuropa als Regel empfand. Deshalb hatte die alte Zuversicht, daß das jüdische Volk letztlich überleben werde, für große Teile der jüdischen Gemeinde keine große Bedeutung mehr; ein jüdisches Leben außerhalb des Rahmens europäischer Zivilisation konnten sie sich ebensowenig vorstellen, wie sie sich ein Europa vorzustellen vermochten, das »judenrein« war.
So monoton auch die »Durchführung« des Weltuntergangs war, er trat doch in einer Vielfalt von Gestalten und Formen in Erscheinung, die den verschiedenen Ländern Europas entsprachen. Für den Historiker, dem der Entwicklungsgang der europäischen Völker und das Heraufkommen des Nationalstaatensystems gegenwärtig ist, wird das selbstverständlich sein, aber den Nazis, die ehrlich davon überzeugt waren, daß Antisemitismus sich als eine Art gemeinsamen Nenners für ganz Europa herausstellen werde, kam dies als eine große Überraschung. Das war ein großer und kostspieliger Irrtum. Es stellte sich rasch heraus, daß es in der Praxis, wenngleich vielleicht nicht in der Theorie, große Unterschiede zwischen den Antisemiten der verschiedenen Länder gab. Am peinlichsten, obwohl leicht vorauszusehen, war, daß der »radikale« deutsche Antisemitismus volle Würdigung nur bei jenen Völkern im Osten – den Ukrainern, Esten, Letten, Litauern und bis zu einem gewissen Grade den Rumänen – fand, die nach dem Beschluß der Nazis als »untermenschliche«, barbarische Horden zu betrachten waren. In besonders auffälliger Weise ließen es dagegen die skandinavischen Nationen an der gebotenen Judenfeindlichkeit fehlen (Knut Hamsun und Sven Hedin waren Ausnahmen), obwohl sie doch den Nazis zufolge Deutschlands Blutsbrüder waren.
Der erste Akt des Weltuntergangs spielte sich selbstverständlich im Deutschen Reich ab, das damals außer Deutschland auch Österreich, das Protektorat über Böhmen und Mähren umfaßte sowie die annektierten Gebiete im westlichen Polen. Aus den letzteren, dem sogenannten Warthegau, waren schon kurz nach Beginn des Krieges Juden zusammen mit Polen ostwärts deportiert worden, in dem ersten riesigen Umsiedlungsprojekt im Osten – »eine organisierte Völkerwanderung« nannte es das Urteil des Bezirksgerichts von Jerusalem –, während die sogenannten Volksdeutschen westwärts gebracht wurden, »heim ins Reich«. Himmler hatte in seiner Eigenschaft als Reichskommissar für die Festigung des Deutschen Volkstums Heydrich mit diesen »Räumungs- und Umsiedlungsfragen« beauftragt, und im Januar 1940 wurde Eichmanns erstes offizielles Büro im RSHA eingerichtet, das Referat IV-D-4. Dieser Posten wurde dann zwar zum Sprungbrett für sein späteres Referat im Büro IV-B-4, aber die Stellung war ohne Bedeutung, eine Art Übergang zwischen dem Auswanderungsgeschäft, das zum Stillstand gekommen war, und den Deportationen, die sich anbahnten. Seine ersten Deportationsaufträge gehörten noch nicht zur »Endlösung«; sie fanden vor dem offiziellen Führerbefehl statt. In Anbetracht dessen, was später geschah, kann man sie als Versuche ansehen, als habe man erst ausprobieren wollen, wie Juden und Nichtjuden sich in der Katastrophe verhalten würden. Das erste Experiment betraf 1300 Juden aus Stettin, die in einer Nacht, vom 13. auf den 14. Februar 1940, verhaftet und deportiert wurden. Diese erste Aussiedlung deutscher Juden hatte Heydrich unter dem Vorwand angeordnet, daß dringender kriegswirtschaftlicher Bedarf an ihren Wohnungen bestand. Sie wurden unter ungewöhnlich furchtbaren Bedingungen nach Polen ins Gebiet von Lublin geschafft. Die zweite Deportation fand im Herbst des gleichen Jahres statt: alle Juden aus Baden und der Saarpfalz – ungefähr 7500 Männer, Frauen und Kinder – wurden, wie schon berichtet, nach
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