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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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hinsichtlich ihrer eigenen Bürger wurden nicht einmal erwähnt. Da aber Deutschland auch in den glanzvollen Tagen des Krieges überall auf Entgegenkommen und Mitarbeit der einheimischen Behörden angewiesen war, konnte man über diese kleinen Formalitäten nicht einfach mit einem Achselzucken hinweggehen. Es war Aufgabe der erfahrenen Diplomaten des Auswärtigen Dienstes, in diesem speziellen »Wald von Durchführungsverordnungen« Auswege zu finden, und der raffinierteste darunter sah vor, die ausländischen Juden dazu zu benutzen, die allgemeine Einstellung zu dieser Frage in ihren Heimatländern zu sondieren. Die hierbei verwandte Methode war, obzwar einfach, immerhin subtil und ging über Eichmanns geistigen Horizont und über sein politisches Verständnis weit hinaus. (Das war im Prozeß dokumentarisch belegt: alle Briefe, die von seinem Büro in dieser Angelegenheit ans Auswärtige Amt gingen, sind von Kaltenbrunner oder Müller unterzeichnet.) Das Auswärtige Amt schrieb an die ausländischen Behörden, wies darauf hin, daß das Deutsche Reich im Begriff sei, »judenrein« zu werden, und daß es daher vonnöten sei, die ausländischen Juden zu repatriieren, wenn sie nicht in antijüdische Maßnahmen einbezogen werden sollten. Hinter diesem Ultimatum steckte mehr, als auf den ersten Blick sichtbar ist. In der Regel waren nämlich diese ausländischen Juden entweder naturalisierte Bürger der betreffenden Länder oder, noch schlimmer, faktisch staatenlos und nur auf die eine oder andere höchst zweifelhafte Weise in den Besitz eines Passes gelangt. So ein Paß tat gute Dienste, solange sein Inhaber im Ausland blieb. Das traf besonders für die lateinamerikanischen Länder zu, deren Konsuln ziemlich offen Pässe an Juden verkauften. Die glücklichen Inhaber solcher Pässe besaßen alle Rechte, einschließlich eines gewissen konsularischen Schutzes, außer dem Recht, ihr »Heimatland« jemals zu betreten. Mit dem Ultimatum des Auswärtigen Amtes wollte man also bei den fremden Regierungen eine Zustimmung zur »Endlösung« erreichen, zumindest bezüglich solcher Juden, die nur nominell ihre Staatsbürger waren. War es nicht logisch, anzunehmen, daß eine Regierung, die erwiesenermaßen nicht geneigt war, einigen hundert oder tausend Juden auch nur Asyl zu gewähren (denn die Voraussetzungen zur dauernden Niederlassung besaßen diese Juden ohnehin nicht), kaum Einwände erheben würde, wenn eines Tages ihre ganze jüdische Bevölkerung ausgetrieben und ausgerottet würde? Die Annahme war vielleicht logisch, aber, wie wir sehen werden, ein Irrtum.
    Am 30. Juni 1943, beträchtlich später, als Hitler gehofft hatte, wurde das Reich – Deutschland, Österreich und das Protektorat – für »judenrein« erklärt. Genaue Zahlen darüber, wie viele Juden aus diesem Gebiet wirklich deportiert wurden, besitzen wir nicht, aber wir wissen, daß von den 265 000 Menschen, die nach deutschen Statistiken im Januar 1942 entweder schon deportiert oder für die Deportation vorgesehen waren, sehr wenige mit dem Leben davongekommen sind. Vielleicht einige hundert, bestenfalls ein paar tausend konnten sich verbergen und den Krieg überleben. Wie einfach das Gewissen der Nachbarn zu beschwichtigen war, beleuchtet am besten die offizielle Erklärung für die Deportationen, die sich in einem von der Parteikanzlei im Herbst 1942 verteilten Rundschreiben findet: »Es liegt in der Natur der Sache, daß diese teilweise sehr schwierigen Probleme im Interesse der endgültigen Sicherung unseres Volkes nur mit rücksichtsloser Härte gelöst werden können« (von mir hervorgehoben).

X Die Deportation aus Westeuropa: Frankreich, Holland, Dänemark und Italien
    »Rücksichtslose Härte«, eine Eigenschaft, die bei den Herren des Dritten Reichs in höchstem Ansehen stand, wird im heutigen Deutschland, das bezüglich seiner Nazivergangenheit ein beträchtliches Talent für Understatements entwickelt hat, oft »ungut« genannt – als ob den Inhabern jener Eigenschaft nicht mehr vorzuwerfen wäre als eine bedauerliche, aber menschlich nur zu verständliche Unfähigkeit, sich streng an die Gebote christlicher Nächstenliebe zu halten; da waren sie eben »überfordert« gewesen. Jedenfalls wurden die Männer, die Eichmanns Büro als »Judenberater« ins Ausland schickte – als Verbindungsleute zu den regulären diplomatischen Missionen, zu den Wehrmachtsstäben oder zu der jeweiligen Kommandantur der Sicherheitspolizei –, danach ausgewählt, ob

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