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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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für … seine Stellung in den Augen seiner Untergebenen« höchstens insofern, als er ihnen unmißverständlich mit dem Verlust ihrer komfortablen Auslandsposten drohte. Doch wenn der Zwischenfall in Bordeaux eine Farce war, so bildete das zweite Vorkommnis den Ausgangspunkt für eine der grausigsten unter den vielen im Sinn des Wortes haarsträubenden Geschichten, die in Jerusalem zur Sprache kamen. Es handelte sich um das Schicksal von 4000 jüdischen Kindern, deren Eltern bereits auf dem Wege nach Auschwitz waren. Die Kinder waren mutterseelenallein an der französischen Sammelstelle im Konzentrationslager Drancy zurückgelassen worden, und am 10. Juli fragte Eichmanns Beauftragter in Frankreich, Hauptsturmführer Theodor Dannecker, in Berlin an, was denn nun mit den Kindern geschehen solle. Eichmann brauchte zehn Tage für eine Entscheidung, dann wies er Dannecker telefonisch an, »daß, sobald der Transport in das Generalgouvernement wieder möglich ist, Kindertransporte rollen können«. Dr. Servatius führte aus, daß der ganze Vorgang im Grunde zeige, daß
    »die betroffenen Personen [auch Kinder] weder von dem Angeklagten noch von Mitgliedern seiner Dienststelle bezeichnet worden sind«.
    Was jedoch bedauerlicherweise in Jerusalem niemand erwähnte, war eine Information, die Darmecker an Eichmann weitergegeben hatte: daß nämlich Laval selbst vorgeschlagen hatte, Kinder unter 16 Jahren in die Deportationen einzubeziehen; die ganze grausige Episode war also nicht einmal das Ergebnis eines »Befehls von oben«, sondern das Resultat einer auf höchster Ebene getroffenen Abmachung zwischen Frankreich und Deutschland.
    Während der Sommer- und Herbstmonate des Jahres 1942 wurden 27 000 staatenlose Juden – 18 000 aus Paris und 9000 aus Vichy-Frankreich – nach Auschwitz deportiert. Dann, als in ganz Frankreich noch etwa 70 000 staatenlose Juden übriggeblieben waren, machten die Deutschen ihren ersten Fehler. Im Vertrauen darauf, daß die Franzosen, an das Deportieren von Juden mittlerweile gewöhnt, nichts dagegen haben würden, wenn auch französische Juden einbezogen würden, baten sie hierfür um Genehmigung – eine Formalität ihrer Meinung nach, um die Verwaltungsprozedur zu vereinfachen. Bei den Franzosen löste dieser Antrag eine vollkommene Wendung in der Judenpolitik aus; ihre eigenen Juden an die Deutschen auszuliefern, das kam nicht in Frage. Zwar gab Himmler, als er über die neue Lage der Dinge unterrichtet wurde – nicht von Eichmann oder dessen Leuten übrigens, sondern von einem der Höheren SS- und Polizeiführer –, sofort nach und versprach, französische Juden zu verschonen, doch nun war der Augenblick verpaßt, denn die ersten Gerüchte über die »Umsiedlung« waren nach Frankreich gedrungen. Die Deutschen hatten sich darauf verlassen, daß nicht nur französische Antisemiten, sondern auch viele nicht spezifisch judenfeindlich eingestellte Franzosen auf eine Gelegenheit, jüdische Ausländer abzuschieben, nur gewartet hatten; was sie nicht verstanden, war, daß auch eingefleischte Antisemiten nicht wünschten, zu Komplicen eines Massenmords zu werden. Und so weigerten sich die Franzosen jetzt, einen Schritt zu tun, den sie erst kurze Zeit zuvor mit viel Eifer erwogen hatten, nämlich, die seit 1927 bzw. seit 1933 gewährten Einbürgerungen von Juden wieder rückgängig zu machen, womit ungefähr weitere 50 000 Juden zu Deportationskandidaten geworden wären. Auch machten sie neuerdings selbst bei der Deportation staatenloser und ausländischer Juden so endlose Schwierigkeiten, daß man all die ehrgeizigen Pläne für die Evakuierung der Juden aus Frankreich nun in der Tat »fallenlassen« mußte. Zehntausende von staatenlosen Personen gingen »untergrund«, während weitere Tausende in die italienisch besetzte Zone an der Côte d’Azur flohen, wo Juden, gleich welcher Herkunft und welcher Nationalität, sicher waren. Im Sommer 1943, als Deutschland für »judenrein« erklärt wurde und die Alliierten gerade in Sizilien gelandet waren, waren aus Frankreich nicht mehr als 52 000 Juden, weniger als 20 % der Gesamtzahl, deportiert worden, und von diesen besaßen höchstens 6000 die französische Staatsbürgerschaft. Nicht einmal jüdische Kriegsgefangene in den deutschen Internierungslagern für die französische Armee wurden zur »Sonderbehandlung« herausgesucht. Im April 1944, zwei Monate vor der Landung der Alliierten in Frankreich, gab es im Lande immer noch 250 000 Juden, die alle

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