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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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sie diese Tugend auch in genügendem Maße besaßen. Zu Beginn, im Herbst und Winter 1941/42, scheint es ihre Hauptaufgabe gewesen zu sein, mit den übrigen deutschen Behörden in den betreffenden Ländern zufriedenstellende Beziehungen herzustellen, besonders mit den deutschen Botschaften in nominell unabhängigen Ländern und mit den Reichskommissaren in besetzten Ländern; in beiden Fällen kam es zu unaufhörlichen Konflikten wegen der Zuständigkeit für jüdische Angelegenheiten.
    Im Juni 1942 berief Eichmann seine Judenreferenten aus Frankreich, Belgien und Holland nach Berlin, um das Programm für die Deportationen aus diesen Ländern festzulegen. Die Priorität beim »Durchkämmen Europas vom Westen nach dem Osten« stand nach Himmlers Weisung FRANKREICH zu, teils wegen der ideellen Bedeutung der nation par excellence , teils weil die Vichy-Regierung ein wahrhaft erstaunliches »Verständnis« für das Judenproblem gezeigt hatte und von sich aus einen beachtlichen Komplex an antijüdischen Gesetzen erlassen hatte; sie hatte sogar eine besondere Abteilung für jüdische Angelegenheiten eingerichtet, zuerst unter Xavier Valiant und etwas später unter Darquier de Pellepoix, die beide bekannte Antisemiten waren. Als Konzession an die französische Spielart des Antisemitismus, die eng verknüpft war mit einer starken, allgemein chauvinistischen Xenophobie in allen Schichten der Bevölkerung, sollte die Operation mit den nichtfranzösischen Juden beginnen, und da 1942 mehr als die Hälfte von Frankreichs ausländischen Juden staatenlos war – Flüchtlinge und Emigranten aus Rußland, Deutschland, Österreich, Polen, Rumänien, Ungarn, also aus Gegenden, die entweder unter deutscher Herrschaft standen oder antisemitische Gesetze bereits vor dem Krieg erlassen hatten –, beschloß man, mit der Deportation von ungefähr 100 000 staatenlosen Juden den Anfang zu machen. (Die gesamte jüdische Bevölkerung Frankreichs betrug nun weit über 300 000; im Jahre 1939, vor dem Einströmen der Flüchtlinge aus Belgien und Holland im Frühjahr 1940, hatten in Frankreich ungefähr 270 000 Juden gelebt, darunter mindestens 170 000 Ausländer oder Naturalisierte.) Je 50 000 aus der deutschen Besatzungszone und aus Vichy-Frankreich sollten mit größter Beschleunigung evakuiert werden. Zu diesem beträchtlichen Unternehmen brauchten die Nazis nicht allein die Zustimmung der Vichy-Regierung, sondern auch die aktive Hilfe der französischen Polizei, die alle Aufgaben, die in Deutschland von der Ordnungspolizei erledigt wurden, übernehmen sollte. Zuerst gab es nicht die geringsten Schwierigkeiten, da, wie Pierre Laval, der Premierminister unter Marschall Pétain, erklärte, »diese ausländischen Juden in Frankreich immer ein Problem gewesen sind« und die »französische Regierung es begrüßte, daß Frankreich jetzt durch eine Änderung der deutschen Einstellung gegenüber (diesen ausländischen Juden) eine Gelegenheit hatte, sie loszuwerden«. Laval und Pétain hatten, das sei hinzugefügt, die Vorstellung, daß diese Juden wirklich im Osten neu angesiedelt würden: was »Umsiedlung« bedeutete, wußten sie noch nicht.
    Auf zwei Ereignisse, die sich im Sommer 1942, wenige Wochen nach Beginn der Operation, zugetragen hatten, richtete sich die besondere Aufmerksamkeit des Gerichts. Das erste betraf einen Eisenbahnzug, der Bordeaux am 15. Juli verlassen sollte und dann ausfallen mußte, weil in Bordeaux nur einhundertfünfzig staatenlose Juden aufzufinden waren – nicht genug, um die von Eichmann mit großen Schwierigkeiten besorgten Waggons zu besetzen. Mag Eichmann das nun als erstes Zeichen angesehen haben, daß die Dinge weniger glatt, als allgemein erwartet, laufen würden, oder nicht, jedenfalls regte er sich ungeheuer auf und kanzelte seine Untergebenen ab, dies sei »doch eine Prestigeangelegenheit« – nicht nur in den Augen der Franzosen, sondern vor allem in denen des Reichsverkehrsministeriums, das womöglich falsche Vorstellungen von der Tüchtigkeit seines Apparats bekommen könnte –, »er müsse sich überlegen, ob er Frankreich nicht überhaupt als Abschubland fallenlassen müsse«, wenn sich derartiges wiederholen sollte. In Jerusalem nahm man diese Drohung sehr ernst als Beweis für Eichmanns Macht; er konnte also »Frankreich fallenlassen«, wenn er wollte! Tatsächlich war es aber eine von Eichmanns lächerlichen Prahlereien, Bestätigung und Selbstbestätigung seiner »Durchschlagskraft«, und ein »Beweis

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