Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
und zog an seiner Zigarette. Spekulationen
waren ihm ein Gräuel, aber da er nicht als Dilettant dastehen wollte, konnte er
dem Drang, Krokowski Kontra zu geben, nicht widerstehen. »So doof, wie wir aussehen,
sind wir nämlich nicht.«
»Hat das
jemand gesagt?«
»Nein, aber
angedeutet. Na schön, damit du endlich Ruhe gibst: Man kann davon ausgehen, dass
die Schüsse, welche auf die Tote abgefeuert wurden, mit hoher Wahrscheinlichkeit
von vorn beziehungsweise aus südlicher Richtung gekommen sind.«
»Entfernung?«
»Gute Frage«,
druckste Naujocks herum. »Ich fürchte, da muss ich passen.«
Krokowski
ließ jedoch nicht locker. »Was meinst du, von wo aus könnten sie abgefeuert worden
sein?«
»Schwer
zu sagen. Die Jungs sind gerade dabei, die Gegend zu durchkämmen.« Naujocks, Sanguiniker
von hohen Gnaden, wog bedächtig das Haupt. »Mal sehen, was Peters dazu sagt.«
»Und du?
Was ist mit dir? Komm schon, Waldemar, lass dir die Würmer nicht einzeln aus der
Nase …«
»Wenn du
mich fragst, kommt nur eine einzige Stelle in Betracht.« Naujocks setzte sich in
Bewegung, steuerte auf die Freitreppe zu und bedeutete Krokowski, ihm zu folgen.
»Da vorne«, fügte er an und deutete auf die Allee, die vom Mausoleum aus schnurgerade
Richtung Süden verlief und auf beiden Seiten von Tannen, Buschwerk und Gestrüpp
begrenzt war. Es hatte aufgehört zu regnen, und die Nadelbäume entlang des Kiesweges
erstrahlten in sattem Grün. An manchen Stellen waren noch Pfützen zu sehen, silbergrau
schimmernd im Licht der Nachmittagssonne, die just in diesem Moment die Wolken durchbrach.
Um die Postkartenidylle zu vervollkommnen, trippelte ein Eichhörnchen aus dem Unterholz,
spitzte die Ohren und verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war. Die Szene hatte
etwas Beschauliches an sich, etwas, das überhaupt nicht zu den Geschehnissen passte.
»Und die
wäre?«
»Der Holzstapel
da hinten. Idealer könnte die Schussposition nicht sein.« Naujocks sog an seiner
Camel und sah seinen Nebenmann aus dem Augenwinkel an. »Und der Giftzwerg, mit dem
du dich vorhin unterhalten hast … dieser …«
»Michalke?
Sagt das Gleiche wie du«, gab Krokowski zurück, wedelte den Zigarettenrauch beiseite
und folgte dem ausgestreckten Zeigefinger seines Kollegen. »80 Meter – ganz schöne
Entfernung, was?«
»Mit Zielfernrohr
kein Problem«, entgegnete Naujocks und nahm einen neuerlichen Zug. »Wie hat der
Kerl eigentlich ausgesehen?«
»Groß, blond,
um die vierzig und gut gekleidet!«, seufzte Krokowski und warf seinem Kollegen einen
jener Blicke zu, die gewöhnlich dazu führten, dass seine Gesprächspartner das Rauchen
einstellten. Nicht so Naujocks, der sich die Freude nicht verderben ließ. »Ich fürchte,
es gibt noch viel zu tun.«
»Weißt du,
was ich mich frage?«
»Nein.«
»Wie kommt
jemand überhaupt dazu, einen derart brutalen Mord … wie hieß die Dame doch gleich?«
»Nettelbeck,
Luise Nettelbeck.« Krokowski kramte seinen Notizblock hervor, schlug den Deckel
zurück und berichtete: »Jahrgang 1918, geboren in Berlin. 1,70 Meter groß, dunkelbraune
Augen, zuletzt wohnhaft in Gauting bei München. Von Beruf Sekretärin.«
»Da sage
mal einer was gegen Handtaschen.«
Krokowski
rümpfte die Nase. Im Gegensatz zu Naujocks, in puncto Humor Sydow fast ebenbürtig,
handelte es sich bei ihm um eine eher zartbesaitete Natur. »Wie dem auch sei, außer
einem westdeutschen Pass, einem Flugticket von Frankfurt nach Berlin und wieder
zurück, ihrem Zimmerschlüssel aus dem ›Excelsior‹ und allerlei Krimskrams besitzen
wir keinerlei Anhaltspunkte.«
»Ich weiß
gar nicht, was du hast!«, hielt Naujocks betont optimistisch dagegen. »Das ist doch
immerhin etwas. Apropos – wann genau wollte sie wieder zurückfliegen?«
»Planmäßige
Rückreise ab Tegel mit den Trans World Airlines um 18.20 Uhr. Zielflughafen Frankfurt,
von dort aus Weiterflug nach New York.« Krokowski schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Merkwürdig.«
»Was denn?«
»Kommt gestern
Mittag hier an und will knapp 30 Stunden später die Zelte wieder abbrechen. Mir
scheint, die Dame hatte es eilig. Sehr eilig sogar.«
Naujocks
zuckte die Achseln. »Manche Leute sind eben so. Einen kurzen Abstecher Richtung
Heimat, um alte Erinnerungen aufzufrischen, und schon zieht die Karawane weiter.«
»Warum aber
gleich nach New York?«
»Mit anderen
Worten, Kriminalkommissar Eduard Krokowski steht im Begriff, eine Hypothese zu entwickeln.«
»Nenn es,
wie du
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