Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
täuschte sich, wenn er sich
einredete, wenigstens hier, am Grab seiner Gönnerin, unbeobachtet zu sein. Und er
machte sich etwas vor, als er zu dem Schluss kam, man würde ihm nichts tun.
Es war die
Rentnerin, die ihm das Leben rettete, nicht etwa sein Urteilsvermögen. Wäre sie
nicht aufgetaucht, hätte der Boulevardreporter, im Fadenkreuz eines Karabiners vom
Typ Mauser 98, nur noch wenige Sekunden zu leben gehabt.
Theodor
Morell, 52, von Beruf Reporter und unbelehrbarer Optimist, spielte ein gefährliches
Spiel. Das, und vieles andere, würde ihm im weiteren Verlauf des Tages bewusst werden.
Einstweilen
aber ging ein Ruck durch ihn, und es schien, als habe er wieder Mut gefasst. Mut,
sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, Mut, mit den Mächtigen dieser Welt die Klingen
zu kreuzen. So wie damals, im Jahre ’43, als er sich geweigert hatte, das ihm zugedachte
Schicksal zu akzeptieren.
Er würde
ihn brauchen, diesen Mut, am heutigen Tage mehr denn je.
10
Berlin-Moabit, Pathologisches
Institut des Städtischen Krankenhauses in der Turmstraße │ 15:55 h
Professor Heribert Peters, Chefpathologe
mit Lehrstuhl an der FU Berlin, war ein zu cholerischen Ausbrüchen neigender, überbeschäftigter
und zu allem Unglück auch noch übergewichtiger Mann. Die leiseste Anspielung auf
seine 112 Kilo, die sich auf 1,80 Meter Körpergröße verteilten, und dem Betreffenden
verging das Lachen. Es sei denn, er hieß Tom Sydow, der Einzige, dem gestattet war,
ihn damit aufzuziehen.
Peters war
eine unumstrittene Koryphäe, verehrt von seinen Studenten, geachtet von den Fakultätskollegen,
gefürchtet von all jenen Mitarbeitern, die Opfer seiner Wutausbrüche geworden waren.
Im Grunde war er eine Seele von Mensch, doch wenn man sich erdreistete, ihm in die
Quere zu kommen, Anordnungen nicht zu befolgen oder gar überflüssige Fragen zu stellen,
dann verwandelte sich der Zweizentnermann in einen Vulkan, und sein Gegenüber tat
gut daran, den Rückwärtsgang einzulegen.
Professor
Blaffke, so sein Spitzname, duldete keine anderen Götter neben sich, schon gar nicht
heute, da er von Zahnschmerzen geplagt wurde. Das hinderte ihn jedoch nicht daran,
seiner Arbeit nachzugehen, denn er war, wie allgemein bekannt, ein pflichtbewusster
Mensch. Die einzige Schwäche, die er sich gönnte, waren Süßigkeiten, am liebsten
Lakritzstangen, die er bei jeder sich bietenden Gelegenheit konsumierte.
Einstweilen
war ihm der Appetit jedoch gründlich vergangen. Schuld daran waren nicht nur die
Zahnschmerzen, mit denen er sich seit dem Vortag herumplagte, sondern der Leichnam,
der vor ihm auf dem Seziertisch lag. Die linke Hand an der Backe und die rechte
auf der Tischkante, gab Peters einen unterdrückten Schmerzenslaut von sich. Anblicke
wie diesen war er eigentlich gewohnt, aber heute, so schien es, war offenbar alles
anders.
Ein Grund
hierfür war mit Sicherheit der Zustand, in dem sich der Schädel der Getöteten befand.
Peters stöhnte innerlich auf. Von einem ›Schädel‹, der diese Bezeichnung verdiente,
konnte nicht im Entferntesten die Rede sein, viel eher von zwei Dutzend Fragmenten.
So etwas bekam man nicht alle Tage zu Gesicht, und er fragte sich, was der Grund
für die brutale Vorgehensweise gewesen war.
Dies festzustellen
war indes Sache der Kripo. Eine Aufgabe, um die er seinen Freund Tom nicht beneidete.
»Pinzette.«
»Hier, Herr
Professor.«
»Hab ich
Ihnen nicht gesagt, sie sollen sich den Professor spa…«
»Das haben
Sie, Herr Professor , aber ich finde, das gehört sich so«, unterbrach ihn
seine Assistentin, ein Bild von einer Frau und darüber hinaus auch kompetent. Dafür,
dass sie erst sechs Semester auf dem Buckel hatte, kannte sich die zerbrechlich
wirkende Doktorandin gut aus, weshalb er beschloss, noch einmal Gnade vor Recht
ergehen zu lassen. »Dass man Sie mit Ihrem Titel anredet, meine ich.«
»Titel oder
nicht«, maulte Peters, entfernte eine weitere Patrone, welche im Hinterkopf steckte,
und hielt sie gegen das Licht. »Was will uns dieses Geschoss sagen?«
»Dass der
Schütze auf Nummer sicher gehen wollte.«
»Das beantwortet
nicht meine Frage.«
»Doch, Herr
Professor. Er wollte sichergehen, dass sein Opfer sofort tot ist, und darüber hinaus
wohl auch, dass …«
»Darüber
nachzudenken ist Aufgabe der Polizei, Fräulein Miesbach, nicht die unsrige.«
»… es schwer
beziehungsweise unmöglich sein würde, die Frau zu identifizieren.«
Nicht bereit,
die Missachtung seiner Majestät
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