Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
hinzunehmen, beförderte Peters das Projektil in
die dafür vorgesehene Blechwanne und richtete sich zu voller Größe auf. Unter normalen
Umständen wäre jetzt eine Strafpredigt fällig gewesen. Aber was war am heutigen
Tag schon normal. »So, meinen Sie«, lautete die für seine Verhältnisse klägliche
Replik, ein Dilemma, das Peters aus Gründen der Selbstachtung seinen Zahnschmerzen
zuschrieb. »Und was bringt Sie dazu, dies zu vermuten?«
»Ganz einfach:
das Projektil!«, erwiderte Elise Miesbach, gebürtige Berlinerin und knapp halb so
alt wie die Koryphäe, welche sie mit verkniffener Miene beäugte. »Wenn mich nicht
alles täuscht, stammt es aus einer großkalibrigen Waffe.«
»Hm.«
»Beziehungsweise
aus einem Repetiergewehr.«
»Was Sie
nicht sagen.«
»Diesbezüglich
kämen mehrere Modelle infrage, aber wenn ich einen Tipp abgeben müsste …«
»Dann?«,
echote Peters, Opfer einer neuerlichen Schmerzwoge, die seinen Drang, Kontra zu
geben, im Keim erstickte. »Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an, Frau Doktor .«
Die Doktorandin
mit dem Madonnengesicht, hinter dem ein überaus durchsetzungsfähiger Charakter steckte,
ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, rückte ihre Brille zurecht und entgegnete:
»Dann würde ich auf eine Präzisionswaffe tippen.«
»Modell?«,
ächzte Peters, dem der Geruch, der in dem fensterlosen Kellergewölbe herrschte,
zusätzlich auf den Magen schlug. Natürlich hatte er gelernt, mit den Duftnoten zu
leben, welche Formaldehyd, Essigsäure, diverse Lösungsmittel und die Ausdünstungen
malträtierter Leichname nach sich zogen. Das galt jedoch nicht für die Räumlichkeiten,
mit denen er seit Jahren vorliebnehmen musste. Hier drunten, in einem Loch, das
verteufelte Ähnlichkeit mit dem Labor eines Gruselfilms besaß, hielt es niemand
lange aus. Außer man war so abgebrüht wie diese Göre, die dabei war, lieb gewonnene
Vorurteile zu entkräften. »Nicht etwa, dass ich Ihnen misstraue, aber …«
»Sie doch
nicht, Herr Professor!«, rief Elise Miesbach mit gespielter Entrüstung, griff in
die Tasche ihres Arztkittels und zog eine Schmerztablette hervor. »Hier – hilft
garantiert.«
»Ehrlich
gesagt wären mir Lakritzstangen lieber.«
»Jetzt stellen
Sie sich nicht so an. Daran ist noch keiner gestorben.«
»Es gibt
immer ein erstes Mal, Fräulein. Wer weiß, vielleicht wollen Sie mich vergiften!«
»Und warum,
bitte schön, sollte ich das tun?«, fragte Elise Miesbach mit bierernster Miene,
worauf Peters lachend ausrief: »Na, wegen meiner Stelle, weshalb denn sonst? Auf
die sind mindestens ein halbes Dutzend Fakultätskollegen scharf. Nee, nee, Fräulein:
erst die Arbeit, dann der Giftbecher.«
»Sprach
Sokrates und gab dem Gefängniswärter frei.« Elise Miesbach gab einen Seufzer von
sich. »Männer, was soll ich sagen.«
»Gar nichts.
Es sei denn, Sie hätten die Absicht, fortzufahren.«
»Nichts
lieber als das!«, erwiderte die Studentin, aus der, wie Peters erkannt hatte, binnen
Kurzem eine Kapazität werden würde. »Wie gesagt: Rein theoretisch kämen mehrere
Modelle infrage, aber wenn Sie darauf bestehen, hier mein Tipp.«
»Und der
wäre?«
»Eine Mauser.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.«
»Eine Frau,
die sich mit Waffen auskennt – alle Achtung.«
»Und warum,
bitte schön, sollte sich eine Frau nicht mit Karabinern …«
»Schon gut,
schon gut. Nur ein Scherz, Frau Kollegin, fahren Sie fort.«
»Heißt das,
ich werde befördert?«, gab die Assistentin eines sichtlich geknickten Heribert Peters
zurück und wartete eine Antwort gar nicht erst ab. »Was mich betrifft, würde ich
auf eine K 98 tippen. Mit Zielfernrohr. Bestens geeignet für Scharfschützen, Sondereinheiten
und Attentäter. Lieblingskarabiner der deutschen Landser, deutlich höher im Kurs
als das Gewehr 43. Der größeren Reichweite und Präzision wegen, sagt man.«
»›Man‹?«
»Mein Vater
ist kurz vor Kriegsende gefallen. In der Schlacht um die Seelower Höhen.« Die Miene
der Medizinstudentin wurde ernst, und das burschikose Auftreten, welches sie an
den Tag gelegt hatte, war verflogen. »Erstaunlich, was man als Kind alles mitbekommt.«
»Erstaunlich,
aber unter den damaligen Umständen kein Wunder.«
»Da haben
Sie recht. So viel habe ich in meinem Leben nie mehr dazulernen müssen. Und das
innerhalb kürzester Zeit.« Elise Miesbach holte tief Luft. »Das mit den Waffen,
nun ja, das habe ich aufgeschnappt, wenn Vater sich mit meinen Brüdern
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