Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
unterhalten
hat. Merkwürdig, aber die beiden konnten nicht genug von seinen Geschichten kriegen.«
»Und Sie?«
»Ich? Tja,
ich musste lernen, was es heißt, auf sich allein gestellt zu sein.«
»Heißt das,
Sie …«
»Das heißt,
ich verlor damals nicht nur den Vater, sondern auch meine Mutter. Und das ausgerechnet
am 8. Mai. Auch daran, wie an den Einmarsch der Russen, kann ich mich sehr genau
erinnern. So genau, als sei es gestern gewesen. Kaum zu glauben, da überlebt die
Frau diesen Krieg, verlässt eines Morgens das Haus, um hamstern zu gehen – und kehrt
nicht mehr zurück. Verschwindet von der Bildfläche, einfach so, ohne Spuren zu hinterlassen.«
»Unbegreiflich.«
»Sagen Sie!
Nun ja, so spurlos nun auch wieder nicht, wie ich ein paar Tage später erfuhr. Kurzum:
Es hat sich herausgestellt, dass sie auf die russische Kommandantur wollte. Um eine
Beschwerde vorzubringen, falls Sie verstehen, was ich meine.«
Peters,
bei Kriegsende Stabsarzt in einem Lazarett, verstand sehr wohl, was sein Gegenüber
damit meinte. Es hatte Mut dazu gehört, Vergewaltiger anzuzeigen, und nur Wenigen,
die den Schritt gewagt hatten, war Gehör geschenkt worden.
»Und da
saß ich nun, sechs Jahre alt und Vollwaise. Der Vater tot, Mutter verschollen, irgendwo
verscharrt oder nach Sibirien deportiert, der ältere meiner beiden Brüder mit der
Panzerfaust in der Hand krepiert. Volkssturm – wenn ich das Wort nur höre! Das Ende
vom Lied: Mein anderer Bruder und ich kamen ins Waisenhaus. Ein Schicksal, um das
einen niemand beneidet, aber was mich anging, hatte ich das Glück, an hingebungsvolle
Pflegeeltern zu geraten. Haben jede Mark zweimal umgedreht, damit etwas aus mir
wird. Tja, wie sagt man doch gleich: Ich habe mich durchboxen müssen. Und muss es
noch immer.« Elise Miesbach atmete geräuschvoll aus. »So, Herr Professor, und jetzt
tun Sie mir den Gefallen und nehmen endlich die Tablette.«
Peters gehorchte.
»Brrr – scheußlicher Geschmack.«
»Lange nicht
so scheußlich wie das, was … Apropos – wie hieß die Dame doch gleich?«
»Nettelbeck,
Luise Nettelbeck!«, antwortete Peters nach einem kurzen Blick in die Kladde, in
der er die Notizen aufbewahrte, welche er sich während seines Gesprächs mit Krokowski
gemacht hatte. »Mitte 40, gebürtige Berlinerin, ledig, zuletzt wohnhaft im ›Excelsior‹.«
»Ich frage
mich, Herr …«
»Heribert.
Und jetzt überlegen Sie sich genau, was Sie sagen.«
»Na schön
– Heribert.« Eine leichte Röte im Gesicht, gegen die sie vergeblich ankämpfte, atmete
Elise Miesbach tief durch und beugte sich über das Wenige, was vom Schädel des Mordopfers
übrig geblieben war. »Ich frage mich, wer so etwas tut.«
»Da fragen
Sie völlig richtig, Eli … Aua! Mist, jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sagen wollte.«
»Kann es
sein, dass es um den Tathergang ging?«
»Genau.«
Rot wie eine Tomate und die leicht hervortretenden grauen Augen auf die Kladde geheftet,
fingerte Peters an seinem opulent sprießenden Vollbart herum und ergänzte: »Nach
allem, was wir bisher wissen, ist der Täter um die Vierzig, schlank und blond.«
»Präziser
geht es wirklich nicht.«
»Nicht unser
Bier, Frau Kollegin, sondern dasjenige der Kriminalpolizei.« Peters zuckte mit den
Schultern. »Wie dem auch sei, die Distanz, aus der die Schüsse abgefeuert wurden,
muss bei etwa 80 Metern gelegen haben. Vielleicht etwas mehr, mit Sicherheit jedoch
nicht viel weniger.«
»Und was
ist mit dem Motiv?«
»Ich geb’s
auf!«, ließ Peters als Reaktion auf die kriminalistischen Ambitionen seiner Assistentin
verlauten, die dabei war, Gehirnmasse in dafür vorgesehenen Behältnissen zu deponieren.
»Womit hab ich das verdient!«
»Die Zahnschmerzen?«
»Nein, die
weibliche Penetranz.« Peters wischte sich den Schweiß von der Stirn, schwor sich,
am morgigen Freitag zu Hause zu bleiben und Sydow eine kollegiale Warnung zukommen
zu lassen. »Nun ja, was das Motiv betrifft, tappt Krokowski im Dunkeln. Das Einzige,
was wir wissen, ist, dass es sich bei dem Opfer mit hoher Wahrscheinlichkeit um
eine Informantin gehandelt hat. Eigens angereist, um einen … Moment, wie hieß der
gute Mann doch gleich …? Genau! Eigens angereist, um einen gewissen Theodor Morell,
von Beruf Reporter, mit dem neuesten Tratsch und Klatsch zu versorgen. Gegen Bezahlung,
sofern meine Kenntnisse über die menschliche Natur nicht trügen.«
»Aber …
aber deswegen bringt man doch niemanden um.«
»Haben Sie
vielleicht
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