Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
besser als all jene, welche dem Morden tatenlos zugesehen haben.«
»Das redest
du dir ein, David. Wenn sich hier einer Vorwürfe machen muss, dann ich.«
»Du hast
getan, was du konntest, Tom. Was mich angeht, kann ich das leider nicht behaupten.«
»Du hast
überlebt. Ist das etwa nichts?«
Müde vom
vielen Reden, hielt Rosenzweig inne und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Nein,
das ist nichts. Nichts im Vergleich zu der Hölle, durch die all die Gepeinigten
gegangen sind.«
»Das führt
zu nichts, David. Wir beide müssen jetzt nach vorn blicken.«
»Nach vorn
blicken, so, so.«
»Weiß du,
woran ich gerade denken muss, Tom? Ich glaube, es war Anfang Juni 1941, kann sein,
dass es auch früher war. Sei’s drum, damals war ich Zwangsarbeiter auf einem Friedhof,
der älteste von knapp zwei Dutzend armen Teufeln, die Wege schottern, Walzen ziehen
und Zement aufschütten mussten.« Rosenzweigs Gesicht wurde von einem flüchtigen
Lächeln erhellt. »Es gab Hilfstotengräber und einen Obertotengräber, Ordnung muss
schließlich sein. Dreimal darfst du raten, wer das war.«
»Alle Achtung,
vor dir ziehe ich den Hut!«
»Gott erhalte
dir deinen Humor, Tom. Du wirst ihn brauchen.« Rosenzweig lachte heiser auf. »Es
war eine irrsinnige Plackerei, so heiß, dass sich die SS-Wachen in den Schatten
verdrückt haben. Ich war bald nur noch Haut und Knochen, hatte wahnsinnigen Durst,
Hunger und jede Menge Blasen an den Händen. Das war nichts für Leute, die es nicht
gewohnt waren, hart zu arbeiten, und dementsprechend hoch war die Zahl derjenigen,
welche die Plackerei nicht durchgehalten haben.«
Sydow nickte,
senkte den Kopf und schwieg.
»Eines Tages
– ich kann dir beim besten Willen nicht mehr sagen, wann – ist es dann passiert.
Ein junger Kerl aus meiner Schicht hat seine Schaufel weggeworfen, die Handschuhe
ausgezogen und den Wachen zugerufen, sie sollen ihren Dreck alleine machen. Kannst
du dir das vorstellen, Tom? Dann hat er sich umgedreht und ist davonspaziert. Einfach
so. Natürlich haben die das nicht auf sich sitzen lassen.«
»Will heißen:
Sie haben ihn abgeknallt.«
»Du sagst
es, Tom. Und weißt du, was das Schlimme daran war? Kein Mensch, auch ich nicht,
hat sich einen Dreck darum geschert. Wir haben einfach weitergeschaufelt, als wäre
nichts gewesen. Der arme Kerl war tot, und das Leben, so man es als solches bezeichnen
durfte, ging weiter.« Morell rang nach Atem. Dann fragte er: »Du weißt, was ich
damit sagen will, Tom?«
»Ich denke
schon.«
»So wie
dem jungen Burschen wird es auch mir ergehen. Irgendwann werden sie mich abknallen.
Wenn nicht heute, dann eben erst in ein paar Wochen. Oder Monaten. Und kein Hahn
wird danach krähen.«
»So darfst
du nicht reden, David!«, widersprach Sydow, näherte sich dem Bett und ließ die Hand
auf Rosenzweigs Schulter ruhen. »Meine Kollegen und ich werden alles tun, um die
Schuldigen zur Rechenschaft zu …«
»Machen
wir uns nichts vor, Tom. Die Sache wird im Sand verlaufen. Erst werden sie euch
zum Schweigen vergattern und sämtliche Unterlagen, derer sie habhaft werden können,
kassieren. Danach werden sie Luises Leichnam auf diskrete Art und Weise verschwinden
lassen. Und dann, wenn alle Spuren verwischt, sämtliche Mitwisser eingeschüchtert
und eure Vorgesetzten entsprechend instruiert worden sind, bin ich an der Reihe.«
Wehmut im Blick, ergriff der Boulevardreporter Sydows Hand. »Danke für alles, alter
Freund – und jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst!«
18
Berlin-Wilmersdorf, Krematorium │ 18:30 h
Er hatte sich abgewöhnt, überflüssige
Fragen zu stellen. Und war gut damit gefahren. Es gab Situationen, wo es ratsam
war, die Klappe zu halten, vor allem im Umgang mit dem LKA. Da tat man, was von
einem verlangt wurde, es sei denn, man legte es darauf an, eins aufs Dach zu kriegen.
Im Krieg,
bei der SS, hatte er es genauso gehalten. Befehl war nun einmal Befehl. Daran gab
es nichts zu rütteln. Die Obrigkeit mochte es nicht, wenn man die Klappe aufriss,
und nichts lag ihm ferner, als sich mit ihr anzulegen. Mit Leuten wie diesem Posininsky
war nicht zu spaßen. Das merkte man sofort.
»Ich hoffe,
wir können uns auf Sie verlassen, Herr Siebert.« Aber natürlich konnten sie das.
Der Hinweis auf seine Vergangenheit als Mitglied der SS-Totenkopfverbände hatte
vollauf genügt. In seiner Lage durfte man nicht wählerisch sein. Das wäre glatter
Selbstmord gewesen. Karl Siebert, genannt Kalle, Jahrgang 1919,
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