Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
SS-Oberscharführer
und Angehöriger des Wachpersonals im KZ Bergen-Belsen, war nicht erpicht darauf,
seine Stelle zu verlieren. Die Arbeit im Krematorium war zwar nicht gerade das,
was er sich erträumt hatte, aber immer noch besser, als im Knast zu landen. Der
Ast, auf dem er saß, war alles andere als dick, Willfährigkeit das Gebot der Stunde.
»Aber natürlich
können Sie das!«, entgegnete Siebert und riskierte einen Blick auf den Blechsarg,
der auf der Ladefläche des Kleintransporters vom Typ DKW F-800 stand. Die Frage,
welche ihm auf der Zunge lag, behielt er wohlweislich für sich, obwohl er zu gerne
gewusst hätte, wessen Leichnam er demnächst einäschern würde. »Schließlich waren
wir Kameraden.«
Die Antwort
ließ nicht lange auf sich warten. »Wenn ich Sie wäre, Herr Oberscharführer«, blaffte
der in Begleitung zweier Kollegen erschienene LKA-Beamte, trat bis auf wenige Zentimeter
an Siebert heran und bedachte ihn mit einem Blick, der Kalle instinktiv zurückweichen
ließ, »dann würde ich das ganz schnell vergessen. Zu Ihrer Information, Siebert:
Ich stehe – oder vielmehr stand – exakt zehn Dienstränge über Ihnen. Ich denke,
wir beide wissen, was das heißt.«
»Natürlich,
Herr Obersturmbannführer.«
Die Augen
hinter der Hornbrille, ohne die Max Hartnagel alias Kriminaloberinspektor Posininsky
verloren gewesen wäre, blitzten amüsiert auf, es fehlte nicht viel, und der 43 Jahre
alte Friedhofsbedienstete hätte die Hacken zusammengeschlagen. »Freut mich zu hören,
Siebert«, schnarrte sein Gegenüber, bedeutete seinen Begleitern, den Sarg in die
angrenzende Urnenhalle zu tragen und gestattete sich ein Lächeln, bei dessen Anblick
dem Kremator [49] flau im Magen
wurde. »Sie werden das Kind schon schaukeln, Siebert. Und nicht vergessen: Von der
Dame, die wir in Ihre Obhut geben, darf nichts, aber auch gar nichts übrigbleiben.«
Posininsky warf einen Blick auf den Kuppelbau, der unweit von ihm in den grauen
Himmel ragte, räusperte sich und sagte: »Die einzig mögliche Art, mit Verrätern
umzugehen, finden Sie nicht auch, Kamerad ?«
19
Berlin-Wannsee, Uferpromenade │ 19:05 h
Kein Zweifel, David hatte recht.
Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Morgen, am Freitag, würde die Welt vielleicht
anders aussehen.
Mit Betonung
auf ›vielleicht‹.
Er hatte
getan, was er für richtig hielt. Und das war ja wohl das Wichtigste. Er hatte gewartet,
bis Verstärkung kam. Er hatte die Kollegen auf den neuesten Stand gebracht. Und
natürlich hatte er ihnen auch eingeschärft, Rosenzweig nicht aus den Augen zu lassen.
Erst dann, nachdem das Menschenmögliche getan worden war, hatte er sich verabschiedet,
seinen Beobachtungsposten an der Pforte geräumt und zugesehen, dass er die Fliege
machte.
Feierabend.
Fürs Erste
jedenfalls.
Auf einen
Schlag hundemüde, stellte Sydow seinen Aston Martin vor dem Bahnhof Wannsee ab,
um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Bevor er nach Hause fuhr, musste er den
Kopf freibekommen, in der Hoffnung, nicht vom Regen in die Traufe zu geraten. Seine
Mutter, die ihn bestimmt sehnsüchtig erwartete, war schließlich immer für eine Überraschung
gut.
Zuvor jedoch
deckte er sich in der Bahnhofskneipe mit Zigaretten ein. Die erste Schachtel seit
Jahren. An sich schon ein kleines Wunder. Aber dann auch wieder verständlich, wenn
man berücksichtigte, was er hinter sich hatte. Sein Geist war zwar willig, das Fleisch
mitunter jedoch schwach. Und das war auch gut so, besonders heute.
Eingedenk
dieser Erkenntnis trank Sydow noch rasch ein Bier, verließ die Kneipe und machte
sich auf den Weg an den See. Dort gab es ein paar Bänke, wo er sich hinsetzen, in
Ruhe qualmen und ein paar Minuten abschalten konnte. Das hatte er sich redlich verdient,
zumindest, was den heutigen Tag betraf. Das Wetter war zwar nicht so, wie es hätte
sein sollen, aber darauf kam es wirklich nicht an. Wichtig war, dass er zur Ruhe
kam, auch wenn der Himmel grau, die Zeit weit vorangeschritten und die Böen, welche
über den See fegten, so heftig waren, dass man sich unversehens in den November
zurückversetzt fühlte.
Als er das
Seeufer erreichte, war es Viertel nach sieben und die Uferpromenade wie leer gefegt.
Die Villen auf der gegenüberliegenden Seite waren nur noch schemenhaft zu erkennen,
und ihm war, als sei alles Leben ringsum erstorben. Weit und breit war kein Mensch,
ja nicht einmal Schwäne und Graugänse zu erkennen, und wo sonst Dutzende von Booten
ihre Bahn zogen,
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