Eifel-Träume
hinunter.
»Ist was passiert, von dem ich nichts weiß?«, forschte Rodenstock weiter.
»Nein«, versicherte ich. »Vielleicht bin ich ja so schlecht dran, weil nichts passiert.«
»Dann heb deinen Arsch, geh in die Wälder oder stell deine Füße in einen Bach und hör dem Leben zu. Emma hat …«
In dem Augenblick meldete sich das Telefon und ich drückte die grüne Taste. Weil ich eigentlich nicht gestört werden wollte, sagte ich heiser: »Bundeskanzleramt, Abteilung Altenhilfe.«
»Baumeister. Wie schön, Ihre Stimme zu hören. Ich liebe Ihre Zynismen. Ich brauche Ihre Hilfe. Nachdem vorhin die Annegret gefunden worden ist, ist ja nun klar, dass es schon wieder einen Fall von Mord an einem Kind gibt. Ich setze voraus, Sie sind wie immer bestens informiert. Nachdem Deutschland diesen wahnwitzigen Fall der beiden getöteten Kinder in Eschweiler durchlitten hat, hatte man eigentlich den Eindruck, es könne nicht schlimmer kommen. Dann dieser Nachfolger von Dutroux, der in Frankreich und Belgien mordete. Und jetzt also die kleine Annegret in Hildenstein …«
»Was sagt die Meldung?«, fragte ich und spürte ein hohles Gefühl im Bauch.
»dpa jagte eben einen Blitz durch. Die Dreizehnjährige ist gegen elf Uhr dreißig ermordet aufgefunden worden. Klar ist wohl, dass ihr Schädel mit einem Stein eingeschlagen wurde. Eine Sexualtat ist laut dpa nicht auszuschließen, zumal das Kind mit nacktem Unterleib gefunden wurde. Interessant fanden wir, dass die Kleine schon seit drei, vier Tagen vermisst und nun relativ nah beim Elternhaus in einem Gestrüpp entdeckt worden ist. Wir fragen uns natürlich, warum sie nicht eher gefunden wurde. War da vielleicht der nette Onkel von nebenan der Täter, dem kein Mensch so eine Sauerei zutrauen würde?«
Mittlerweile hatte ich begriffen, dass es nur Grothmann aus Hamburg sein konnte, mit dem ich sprach. »Was genau wollt ihr?«
»Eine aufmerksame Studie. Nichts Schnelles, nichts Überhastetes, nichts für einen Tag. Wenn es im nächsten Heft erscheinen kann, dann ist das okay. Wenn nicht, dann ist das auch okay, dann machen wir es später. Glauben Sie, dass Sie das auf die Beine bringen können?«
»Was ist mit Bildmaterial?«
»Na ja, wie üblich. Die Eltern haben wir schon, die Schulkameraden auch. Das liegt alles vor. Bilder der Toten vielleicht. Allerdings nur, wenn ein Foto dabei ist, das die anderen nicht haben. Ach – machen Sie sich bildmäßig keine Gedanken! Gut wäre eine sorgfältige Beobachtung der Arbeit der Mordkommission. Noch besser wäre eine gut gemachte Geschichte über die Bevölkerung der kleinen Stadt. Wie reagieren die Leute darauf? Verändert sich nach so einem Ereignis etwas? Ich muss Ihnen das nicht erklären, Sie wissen schon: eine Geschichte, in der die intensive Neugier des Baumeisters deutlich wird. Das ist es, was ich liebe, das will ich haben. Halten Sie Kontakt zu uns, damit wir wissen, wie wir stehen! Ach ja, Sie werden nach den Sätzen des Hauses bezahlt, egal, ob die Geschichte erscheint oder nicht. Machbar?«
»Einverstanden«, sagte ich schnell.
»Brauchen Sie einen Vorschuss?«
»Nein, ich komme klar. Ich melde mich. Und danke für den Anruf.«
»Gerne«, verabschiedete sich Grothmann wie ein Oberkellner.
»Rodenstock«, sagte ich atemlos in die anschließende Stille. »Jetzt bin ich gewissermaßen im Arsch: Ich habe eine Geschichte am Hals, die Annegret heißt, und ich weiß nichts darüber.«
Er stand da wie eine Skulptur. »Als die Kleine spurlos verschwunden ist und du dich nicht gerührt hast – da wussten wir, dass mit dir etwas nicht stimmt. Bist du bereit, wieder am Leben teilzunehmen?«
»Ja, natürlich. Wer ist Annegret?« Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder. Ich sah den Garten, den Teich, die Mauer und es schien mir so, als wachte ich aus einem langen Schlaf auf.
Rodenstock setzte sich. »Ich hätte gerne noch einen großen Brandy, die Geschichte ist ziemlich schlimm. Ich nehme an, sie haben das Kind gefunden?«
»Ja. In der Nähe des Elternhauses. Erschlagen. Hast du den Fall verfolgt? Ich hole dir schnell den Brandy. Was ist mit Kaffee?«
Er zerquetschte die Zigarre halb geraucht und ziemlich brutal im Aschenbecher und nickte heftig.
Als ich mit den Getränken zurückkehrte, räusperte er sich. »Also gut, dann fange ich mal an. Die Geschichte begann vor drei Tagen. Das Mädchen besuchte eine Schule in Hildenstein. Es heißt mit vollem Namen Annegret Darscheid, wie der Eifelort Darscheid, keine
Weitere Kostenlose Bücher