Eifler Zorn
verstehen Sie? Er hat mich
gequält, mit Tellern nach mir geworfen, wenn ihm das Essen nicht schmeckte. Er
hat meinen Vogel umgebracht – ihn auf den Balkon gestellt und das Tierchen
einfach erfrieren lassen!« Sie schluchzte. »Er war so ein schlechter Mensch,
Frau Kommissarin, so ein schlechter Mensch.«
»Warum haben Sie ihn nicht
verlassen?«
»Das ging doch nicht.« Edith
Lenzens Pupillen weiteten sich. Von der Farbe ihrer Iris blieb nur ein kleiner
Rest zu sehen. Lila, dachte Judith, wie ungewöhnlich.
»Warum nicht?«
Ein schiefes Lächeln
verzerrte ihre Mundwinkel. »Er war doch mein Mann.«
»Sie haben Ihren Mann
getötet, Frau Lenzen.« Sauerbier. Worte wie Peitschenhiebe. Er stand auf. Die
Stuhlbeine krachten auf dem nackten Linoleum. »Mit sechsundfünfzig
Messerstichen. In den Bauch, in den Hals, ins Gesicht. Das rechte Schulterblatt
des Toten war durchstoßen, sein Nasenbein war gebrochen. Sie haben eine
ungeheure Kraft aufgewendet, um ihn zu töten.«
Judith versuchte, das Bild
einer Rasenden im Blutrausch mit der Frau übereinzubringen, die ihr gegenübersaß.
Es gelang ihr nicht. Zu zart die Handgelenke, die Arme, die ganze Gestalt.
»Ich kann mich nicht mehr
richtig erinnern.« Edith Lenzen wiegte sich wieder langsam vor und zurück,
während sie mit beiden Händen die Stuhlkante umklammerte. »Wir waren über zwanzig
Jahre verheiratet. Ich habe ihn ertragen, mich nicht gewehrt, wenn er so war.
Niemals. Und dann war da plötzlich dieser Gedanke, der mich nicht losließ und
für den ich mich geschämt habe. Ich wollte es nicht tun, hab es mir immer
wieder verboten, weil es schlecht ist. Ich wollte kein schlechter Mensch sein.«
Sie zog stockend die Luft ein. »Ich wollte wieder atmen können. Leben. Frei
sein. Verstehen Sie? Sie sind doch eine Frau.« Wieder suchte sie Judiths Blick,
bat stumm um Verständnis, um vergebende Zustimmung und sank, als sie sie nicht
fand, in sich zusammen.
»Hat er Sie vergewaltigt?«
Edith Lenzen schüttelte den
Kopf. »Nein.«
»Hat er Sie bedroht? Mit dem
Messer vielleicht?«
»Nein.«
»Wir haben seine
Fingerabdrücke am Messergriff gefunden.«
»Er hat damit seine Wurst in
Stücke geschnitten.«
»Hat er Sie geschlagen?«
»Nein.«
»Der Körper wies Einstiche
im Rücken auf. Sie haben Ihren Mann hinterrücks überfallen«, mischte sich
Sauerbier wieder in das Gespräch.
Edith Lenzens Kopf ruckte
zur Seite. Sie blinzelte, fixierte Sauerbier und fuhr sich mit der Zunge über
die Lippen.
»Ich wollte abwaschen. Hab
seinen Teller, das Glas und das Messer genommen und bin in die Küche gegangen.
Ich war so wütend.« Ihre Hände ruckten hoch, zu Fäusten geballt. »Es ist in mir
hochgekrochen, der Hass und die Wut, wie ein Feuer in meinem Kopf. Ich konnte
nicht … Ich wusste nicht, was ich da tat.« Sie streckte wieder eine Hand
in Richtung Judith aus. »Ich habe so gezittert, mein Herz hat gerast, und ich
konnte nichts anderes denken als ›Jetzt ist es genug‹. Und dann habe ich auf
ihn eingestochen. Immer und immer und immer wieder.«
Sauerbier drückte den Rücken
durch und stemmte gebieterisch die Hände in die Hüften. »Sie geben also zu,
dass Sie Ihren Mann Helmut Lenzen am 27. Oktober diesen Jahres mit
sechsundfünfzig Messerstichen getötet haben?«
Edith Lenzen schloss die
Augen. »Ich habe es doch nie geleugnet.«
»Also geben Sie es zu?«,
hakte Sauerbier nach.
»Ja.« Dann begann sie zu
weinen.
Judith blieb am
Verhörtisch sitzen, nachdem Edith Lenzen von einer Kollegin abgeführt worden
war, und starrte auf die Stelle auf dem Tisch, an der die ausgestreckten Hände
der Frau gelegen hatten. Graue Hände. Feine Falten in der Haut. Die Finger ein
wenig geschwollen. Nicht ungepflegt. Ihre Mutter hatte solche Hände. Sauerbier
lehnte ohne Regung am offenen Türrahmen. Sie wollte, dass er ging und sie
allein über den Fall nachdenken ließ. Aus dem psychiatrischen Gutachten, von
denen erstellt, die es gewohnt waren, in die letzten Winkel der Seele
vorzudringen, würde sie mehr über die Gründe erfahren, die diese kleine, schmächtige
Frau dazu gebracht hatten, nach zwanzig Jahren ihren Ehemann umzubringen. Sie
selbst hatte ihre Arbeit erledigt, die Mörderin gefangen und Beweise vorgelegt.
Den Rest übernahmen andere. Sie versuchte, die Bilder vom Tatort aus dem Kopf
zu bekommen, das Blut, die verrenkten Glieder, die umgestürzte Bierflasche,
deren Inhalt sich über den Teppich ergossen und mit dem Blut vermischt hatte.
Edith Lenzen
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