Eifler Zorn
überhaupt zu bemerken. Er hat sich an dem Wachmann am Eingang
vorbeigeschlichen, nach einem Arzt gesucht und ihn schließlich hier, in einem
der Krankensäle, gefunden. »Was macht dich da so sicher?«
Paul
zuckt mit den Schultern. Dass der Arzt ihn nicht wegen seines Eindringens
ausschimpft und hinauswirft, ist schon ein großer Erfolg. »Ich weiß es nicht.«
»Hat
deine Schwester Fieber?«
»Ja.«
»Hat sie
Schmerzen im Hals?«
»Sie kann
nicht schlucken und bekommt keine Luft. Und sie muss husten.«
»Kannst
du sie herbringen?«
»Nein.
Die Mutter will es nicht.«
Der Arzt
streckt den Rücken durch. »Wenn es wirklich Diphtherie ist, muss ich den Fall
der Polizei melden. Wie ist dein Name?«
»Paul.«
»Und
weiter?«
»Weber.«
»Wo
wohnst du?«
»In der
Mülsgasse.« Er fröstelt. Der unvermittelte Befehlston des Arztes schüchtert ihn
ein. Hat die Mutter recht gehabt, und es war ein Fehler, hierherzukommen?
»Ah.
Dort. Ich werde mich darum kümmern.« Der Arzt zieht seine Taschenuhr hervor,
lässt den Deckel auf- und nach einem kurzen Blick auf die Uhr wieder
zuschnappen. »Morgen.« Die Art, wie er es sagt, macht Paul unmissverständlich
klar, was er denkt: Das Arbeiterviertel. Kein Grund zur Eile.
Er kennt
diese Reaktion. Hat sie schon oft erlebt bei denen, die eine andere Stellung im
Leben haben als er.
Paul
bleibt stehen, unschlüssig, was er nun tun kann. Wut rumort in ihm, verdrängt
die Angst um Emma in die hinterste Ecke seines Denkens. Er ballt die Hände zu
Fäusten.
»Ja?«
Eine hochgezogene Augenbraue, ein Blick aus den Augenwinkeln, fahrig und schon
mit Wichtigerem beschäftigt, begleiten die Frage.
Paul
spürt das Pochen hinter seinen Schläfen. Er senkt den Kopf. Die Erkenntnis über
die Sinnlosigkeit des Widerspruchs trifft ihn wie ein Schlag in den Magen. Er
stammelt einen gelogenen Dank, verlässt den Saal und sucht den Ausgang.
Beim
Hineingehen muss er durch andere Flure gegangen sein, oder sein Ziel, Hilfe für
Emma zu bekommen, hat ihn die Orientierung verlieren lassen. Die Türen und
Räume erscheinen ihm fremd und sehen doch alle gleich aus. Er liest die
Aufschriften auf den Schildern neben den einzelnen Zimmern. Worte, die nach
Krankheit klingen und nach Hoffnung.
Das Schild
auf der letzten Tür am Ende des Ganges weist das dahinterliegende Zimmer als
Arzneimittelkammer aus. Einem Impuls folgend tritt er ein. Eine Deckenlampe
wirft gelbliches Licht auf Regale und Schränke, in deren Glastüren sich sein
Gesicht weich spiegelt. Suchend streicht er die Regale entlang. Aufschriften,
die er zwar entziffern kann, die aber keinen Sinn für ihn machen, als er die
Laute leise ausspricht. Metallisch glänzende Spritzen auf silbern schimmernden
Tabletts. Glatte Leinentücher, Watte in großen Behältern. Was will er hier? Hat
er gedacht, zwischen all den Schachteln, Tiegeln und Glasflaschen das Richtige
für Emma zu finden? Lächerlich.
»Was
machst du da?« Eine Frauenstimme. Er zuckt zusammen. »Wolltest du stehlen? Na
warte.«
Jetzt
sieht er die Frau, zu der die Stimme gehört. Sie steht im Türrahmen. Ihr
makellos weißer Schürzenrock reicht bis zum Boden, darüber die hellgraue Bluse
mit weißem Kragen ist manschettensteif. Über ihren Haaren schwebt wie eine
Krone das Schwesternhäubchen.
»Nein.«
Er tritt einen Schritt auf sie zu. Sie ist einen Kopf größer als er und jünger,
als er zunächst gedacht hat. Die steife Tracht macht das Mädchen zur Frau.
»Nein. Ich wollte nichts fortnehmen. Ich habe mich verlaufen, und als ich hier
drin war …« Er hebt die Hände in einer hilflosen Geste und lässt sie
wieder sinken. »Meine Schwester, sie ist krank«, murmelt er, »ich hatte
gehofft …«
»Dann
mach, dass du hier rauskommst, bevor ich die Pfleger rufen muss«, unterbricht
sie ihn und hält ihm die Tür auf, die Hand fest um die Klinke geklammert. Er
drückt sich an ihr vorbei, rennt den Gang entlang, ohne sich noch einmal
umzusehen, bis er schließlich den Ausgang findet.
***
Wie ein
Sonntagsausflügler auf Reisen lenkte Sauerbier den Wagen vom Präsidium in
Richtung Eifel. Meckenheim, Rheinbach und Euskirchen. Landpartie. Als sie
hinter Wißkirchen die A1 überquerten, kannte Judith sich wieder aus. Vor ihnen
lag die Schnellstraße, die sie eigentlich in zwanzig Minuten bis nach Gemünd
bringen würde, wenn Sauerbier die Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht penetrant
unterschreiten würde. Gequält drückte sie den linken Fuß gegen ein
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