Eifler Zorn
etwas beschränkt«, sagte er schließlich.
»Hans-Peter hat sich heute Morgen krankgemeldet, und die anderen beiden
Kollegen sind im Einsatz. In Königswinter haben sie einen aus dem Rhein
geangelt.« Die Stimme seines Gesprächspartners rasselte wieder durch den Hörer,
ohne dass Judith etwas hätte verstehen können. Sauerbiers Blick ruhte auf ihr,
während die Enden seines Schnurrbartes unter seinen rollenden Fingerkuppen die
Form von Spießen annahmen. Sie fühlte sich unbehaglich. »Gemünd?«, fragte
Sauerbier dann und stand auf. »Ja, das passt doch wunderbar. Ich nehme das
Fräulein mit. Die kennt sich da ja auch aus.«
Judith zuckte zusammen. Er
meinte sie, das war ihr klar, und sie hasste es, so betitelt zu werden.
Trotzdem war sie jetzt neugierig. Was war mit Gemünd?
Sauerbier beendete das
Gespräch, fischte seinen Trenchcoat vom Garderobenständer und zog ihn an. »Dann
komm mal mit, Mädchen«, wandte er sich an Judith, während er ihren dunkelblauen
Blazer nahm, um ihr hineinzuhelfen. Wie ein Gentleman alter Schule hielt er ihr
die Tür auf und ließ ihr mit einer leichten Verbeugung den Vortritt. »Deine
Formulare können warten. Jetzt kannst du was lernen.«
DREI
Der Geruch ist immer da. Er empfängt ihn jeden Abend, wenn er von der
Arbeit nach Hause kommt, und verblasst mit jeder Stunde, die er mit den anderen
zusammen im Zimmer verbringt, zwischen ungewaschener Kleidung, der dampfenden
Kohlsuppe auf dem Ofen in der Ecke und Vaters Krankenbett. Am Morgen trägt er
ihn mit sich wie ein unsichtbares Kleidungsstück, das ihn wärmt. Hinaus auf die
Straße, wo die anderen, die wie er zur Fabrik gehen, alle ihren eigenen und
doch gleichen Geruch mit sich herumtragen. Nach Zuhause. Nach Armut.
»Wie geht
es Emma?«, will Paul als Erstes wissen, hängt seine Jacke an den Haken direkt
neben der Tür und stellt seine Schuhe zum Trocknen unter den Ofen.
»Das
Fieber ist schlimmer geworden.« Seine Mutter sieht vom Tisch auf, an dem sie
Kartoffeln schält, legt das Messer aus der Hand und steht auf. »Ich habe kalte
Lappen um ihre Beine gewickelt, aber es nutzt nichts.«
Wie zur
Bestätigung bellt ein Husten durch den Raum. Paul geht zu Emma und setzt sich
auf den Rand ihres gemeinsamen Bettes. »Hallo«, sagt er leise und fasst seine
Schwester an den Schultern, um sie ein wenig aufzurichten und ihr das Husten zu
erleichtern. Emma ringt mühsam nach Luft. Ihre Haut glüht, und ihr Hals ist an
den Seiten stark angeschwollen.
»Geh
nicht zu nah an sie heran, sonst wirst du auch krank.« Die Mutter winkt ihn zu
sich. »Wir müssen ihr ein Bett auf dem Boden machen, damit sie allein liegen
kann.«
»Ich
mache das.« Paul streicht Emma über die Haare. Als sie ihm matt zulächelt,
erkennt er den bräunlichen Belag auf ihren Lippen und in ihrem Mund. Er zuckt
zurück. »Sie hat die Rachenbräune!«
»Ja.«
»Wir
müssen sie ins Krankenhaus bringen, damit sie ihr dort helfen können.«
»Bist du
verrückt? Weißt du nicht mehr, was dann passiert?« Die Mutter stützt sich mit einer
Hand auf den Tisch, mit der anderen hält sie ihren schwangeren Bauch. »Sie
kommen sie holen und bringen sie ins Krankenhaus auf die Isolierstation, und
wir sehen sie nie wieder. So war es auch bei deinem Bruder.«
»Aber wir
können ihr hier nicht helfen!«
»Wenn sie
sie holen, werden sie keinen Stein auf dem anderen lassen.« Sie sieht sich um.
»Alles werden sie uns wegnehmen. Die Wäsche, die Vorräte. Und die wenigen
Sachen, die uns bleiben, müssen alle nach Vorschrift desinfiziert werden. Ich
hab das einmal erlebt, das reicht!« Sie stöhnt und greift sich ins Kreuz.
Emma
hustet wieder und nimmt Pauls Hand. »Ich will hierbleiben, Paul.« Ihre Stimme
klingt heiser. Tonlos.
»Emma, du
musst ins Krankenhaus. Da gibt es Arznei, die dir hilft.«
Sie
schüttelt den Kopf und schließt die Augen.
»Mutter!«
»Nein.«
»Aber wir
können auch nicht einfach zusehen. Wir müssen etwas unternehmen.« Er steht auf,
geht zur Tür und reißt die Jacke vom Haken.
»Paul!«
Er hört
nicht. Rennt hinunter auf die Straße. Wütend. Überlegt kurz, in welcher
Richtung das Krankenhaus liegt, und läuft los.
»Deine
Schwester hat die Rachenbräune, sagst du?« Der Arzt blickt ihn über den Rand
seiner Brille hinweg an. Das saubere Weiß seines Kittels wirkt wie ein
Fremdkörper in dem Saal. An beiden Seiten stehen Betten in einer Reihe. Darin
sieht er bleiche Gesichter. Einige Patienten schlafen, wenige haben die Kraft,
Paul
Weitere Kostenlose Bücher