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Eifler Zorn

Eifler Zorn

Titel: Eifler Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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gestorben?«
    »Autounfall.«
    »Hast du sie vermisst?«
    »Ja. Ich konnte nicht
verstehen, dass sie weg war. Einfach so. Hab immer gedacht, sie kommt wieder
und macht da weiter, wo sie aufgehört hat. Aber sie kam nicht.«
    »Ich hatte Angst, dass meine
Großmutter doch nicht stirbt, als sie wieder aufstand. Dass sie uns noch weiter
quälen würde. Als es vorbei war, war ich unendlich erleichtert.«
    Ich schluckte. Angst, dass
jemand nicht starb?
    »Hör zu. Ich werde jetzt
noch einmal versuchen, den Eingang frei zu bekommen. Zu lange darf ich die
Lampe am Handy nicht brennen lassen, sonst haben wir nachher keinen Saft mehr,
wenn ich endlich Empfang habe.«
    Ich stand auf, ging die
wenigen Schritte zu der Stelle, an der ich eben beginnen wollte zu räumen. Der
Plan, wenn man es denn so nennen konnte, sah vor, die oberen Steine und
Schieferplatten zur Seite zu bewegen, um eine Art Luke zu schaffen, durch die
ich kriechen und Hilfe holen konnte. Ein letzter Schulterblick auf Sandra
bestätigte mir, dass ich nicht mehr allzu viel Zeit hatte. Die Steine
knirschten, während ich mich langsam nach oben vorarbeitete. Das Handy zwischen
die Zähne geklemmt, kroch ich so flach wie möglich die kurze Steigung hinauf
und musste dabei an die Kohlehaufen im Keller meines Großvaters denken, über
die wir verbotenerweise zum Schüttfenster hinaufgekrochen waren, um die
vorbeigehenden Passanten zu erschrecken. Unter meinem rechten Fuß löste sich
ein Widerstand, ich glitt ab, rutschte und rammte mit dem Kinn eine Kante.
    »Verflucht!«
    »Bist du verletzt?«, fragte
Sandra leise.
    »Ich glaube nicht.«
    »Gut.« Sie blinzelte. Es
machte ihr Mühe, die Lider zu heben. »Bei manchen Menschen ist es besser, wenn
sie sterben. Sie fügen anderen Leid zu und lassen ihnen keine Luft zum Atmen.«
    »Was hat sie getan, deine
Großmutter?« Ich begann ächzend damit, grob verkantete Schieferfelsen zur Seite
zu schieben.
    Sandra lachte ein heiseres
Lachen. »Bist du gläubig?«
    »Wie meinst du das?«
    »Glaubst du an Gott?«
    »Möchtest du gerne, dass ich
mit dir bete?«
    Sie lachte wieder. Leiser
diesmal und schwächer. »Nein. Ich möchte nicht beten. Ich musste zu viel beten.
Das reicht für ein ganzes Leben. Ich will nur wissen, wie du darüber denkst.«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wirklich? Oder willst du es
nicht sagen? Bist du auch eine von denen, die sich nicht trauen, das zu sagen,
was sie wirklich denken, nur um des lieben Friedens willen? Weil man hier eben
in die Kirche rennt und alle Feiertage mitmacht, nur weil es sich gehört? Ohne
wirklich dahinterzustehen? Vorne christlich reden und hintenherum auf alle
Gebote pfeifen, Hauptsache, niemand redet schlecht über dich?«
    »Denkst du so?«
    »So bin ich erzogen worden.
Sie hat uns auf einem Kantholz knien und den Rosenkranz beten lassen, wenn sie
dachte, wir hätten etwas gemacht, was in ihren Augen Sünde war. Und davon gab
es reichlich.« Sie räusperte sich. »Ich hatte mein Leben damit verbracht, mir
Schmerz zufügen zu lassen. Ich wollte nicht, dass es Luisa ebenso geht. Eines Tages
musste Schluss sein.«
    »Wie meinst du das?« Ich
hielt inne und leuchtete in ihre Richtung. Das spärliche Licht reichte nicht
aus, um von hier oben ihr Gesicht zu erkennen. Schritt für Schritt suchte ich
den Weg rückwärts über den Schotter hinunter. Langsam. Nicht von der Vorsicht,
sondern von dem Wunsch getrieben, dem intuitiven Gespür, das sich mir
angenähert hatte, Raum und vor allem die Zeit zu lassen, die es brauchte, um zu
einem fassbaren Gedanken zu werden. Womit musste Schluss sein? Was hatte Sandra
getan, damit der Schmerz endete?
    »Wie lange dauert es, bis
man verblutet?«, fragte sie statt einer Antwort auf meine Frage. »Eine Stunde,
zwei Stunden?«
    »Das wird nicht passieren,
Sandra. Wir schaffen es.« Wenn ich nun endlich zupacken und die Steine zur
Seite schaffen konnte. Unsere einzige Chance. Aber dazu musste ich sie allein
lassen.
    »Ich habe Durst.« Sie leckte
sich über die Lippen. Hilflos sah ich mich um. Es gab nichts in diesem
verdammten Stollen, womit ich ihr das Leben leichter machen könnte.
    Von Nahem wirkte ihre Blässe
beängstigend. Hohle Wangen. Schneller Puls. Die Adern an ihrem Hals
eingefallen.
    »Ich muss wissen, wie viel
Zeit mir noch bleibt.«
    »Warum?«
    »Es gibt Dinge, die ich
erledigen muss. Die in meiner Verantwortung liegen.«
    »Macht es dabei einen
Unterschied, ob du das hier«, ich zeigte auf den Steinhaufen über ihrem

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