Eifler Zorn
sah links hinter ihm die Displayanzeige ihres
Radioweckers. Kurz vor acht.
»Scheiße!« Sie sprang auf,
suchte hektisch ihre Klamotten zusammen und verschwand im Badezimmer. Sie hatte
schon die Bürste und ein Haargummi in der Hand, als sie sich im Spiegel sah.
Ihre neue rote Kurzhaarfrisur sah aus, als sei sie gerade aus dem Bett
gekrochen. Vom Friseur so beabsichtigt, aber nicht das, was sie jetzt wollte.
Sie ließ Wasser über ihre Hände laufen, klatschte sich einen Schwung ins
Gesicht und fuhr im Anschluss daran mit den Fingern durch die Haare. Die Bürste
brachte Fasson.
»Jetzt siehst du fast aus
wie deine ehemalige Chefin Ina. Nur sind deine Haare rot.« Kai grinste und sah
ihr von seinem Platz aus nach, als sie ihre Jacke überstreifte und die Tür
hinter sich ins Schloss zog.
Judith parkte ihren
Wagen im Parkhaus des Bonner Polizeipräsidiums auf der obersten Etage. Die
untere war den Dienstwagen vorbehalten, die dort vom Hauptgebäude aus am
schnellsten zu erreichen waren. Kalter Wind zog durch die Gitter der
Seitenwände. Judith fror. Der Herbst war nicht ihre Jahreszeit. Sie lief die
Treppen hinunter, nahm zwei Stufen auf einmal, damit ihr wärmer wurde, bis sie
zu der kurzen Brücke kam, die das Parkhaus mit dem Präsidium verband. Rechts
unter ihr auf dem Hof, in dem auch die Hundestaffeln ihre Bleibe hatten, stand
ein kleiner alter Polizeiwagen. Grüne Motorhaube, weiße Kotflügel und ebenfalls
in typischem Polizeigrün und entsprechender Aufschrift gehaltene Türen. Ein
großes » BN « für Bonn prangte in weißen Buchstaben
lotrecht auf der Haube. Aufgebockt und ohne Reifen wartete er darauf, von
seinem Besitzer, einem oldtimerbegeisterten Kollegen, restauriert zu werden.
Judith gefiel das kleine Auto.
Links unter ihr befand sich
der Einlieferungstrakt. Hierhin brachte man die Kundschaft zur weiteren
Verwahrung. Hohe Mauern und ein gut gesicherter Zaun signalisierten äußerst
deutlich, dass hinter der roten Trennlinie ein Gedanke an Flucht eher
Zeitverschwendung war. Im Glas der Eingangstür sah sie ihr Spiegelbild,
brauchte zum zweiten Mal an diesem Morgen einige Sekunden, bis sie sich selbst
erkannte, und bekam, ebenfalls zum zweiten Mal, Zweifel, ob sie das Richtige
getan hatte. War sie das? Oder war das eine Person, die sie gern sein wollte?
Ihre Finger huschten über die Tastatur der Zeiterfassung, um sich ordnungsgemäß
anzumelden, und sie setzte ihren Weg fort. Die Absätze ihrer Schuhe knallten
auf dem hart lackierten Holzboden.
Ihr schlechtes Gewissen
meldete sich, als sie an einem Plakataufsteller vorbeikam, der sie mit großen
roten Buchstaben fragte, ob sie »Lust auf Laufen« hätte. Hatte sie. Im Prinzip.
Nur keine Zeit. Das war ihr Problem. Oder ihre Ausrede. Obwohl ihr klar war,
dass diese Ausrede irgendwann zu ihrem Problem werden konnte. Sie schob das
Datum und den Treffpunkt zum ersten Polizei-Lauftreff in die unterste Schublade
ihrer Erinnerung und stopfte das schlechte Gewissen gleich dazu. Erst den
Gemünder Fall abschließen. Dann. Später. Sie schaute auf die Uhr.
»Guten Morgen, Judith«,
begrüßte Sauerbier sie, ohne sich zu ihr umzudrehen. Er saß mit dem Rücken zur
Tür. »Wir haben schon auf dich gewartet.« Erst als sie um den Tisch herum auf
ihren Platz vor dem Fenster zuging, sah er sie an. »Oh.« Er strich sich über
den Schnäuzer und musterte sie. Seine Miene vollführte eine Wandlung von
Erstaunen über Irritation bis hin zur deutlichen Missbilligung.
»Guten Morgen«, erwiderte
Judith knapp. Sie war nicht zu spät, auch wenn Sauerbier so tat, als ob. Ohne
ein weiteres Wort setzte sie sich und wartete, bis die anderen Kollegen sich
auf ihren Stühlen zurechtgerückt hatten. »Was haben wir?«, fragte sie und
eröffnete damit das Gespräch.
»Die Berichte des
Rechtsmediziners sind eben eingetroffen.« Eine Kollegin, die ihnen für diesen
Fall als interne Unterstützung zugeteilt worden war, reichte Judith einen
Stapel Papier. »Es gibt eine Reihe Merkwürdigkeiten.«
»Inwiefern?«
»Dem Toten, Arno Kobler,
wurden nach dem Tod die Hände abgetrennt. Das Blut hatte bereits aufgehört zu
zirkulieren.«
»Aha. Also diese Variante«,
murmelte Judith.
»Bei der ersten Leiche, von
der wir nicht wissen, wer es ist, fehlten die Hände ebenfalls.«
»Das ist nichts Neues«, fiel
Sauerbier ihr ins Wort. Die Kollegin sah ihn missbilligend an, sprach aber
weiter, ohne darauf einzugehen.
»Es mögen Jahre zwischen den
Morden liegen, aber es wurde bei
Weitere Kostenlose Bücher