Eifler Zorn
nackt und hatte nichts bei sich.«
»Ich gehe davon aus, dass
ihre Kollegen die Kiste bereits untersucht haben.«
»Sagen konnten sie darüber
leider nur wenig. Verschiedene Holzsorten, mit langen Nägeln grob
zusammengenagelt.«
Er nickte. »Na ja. Wie dem
auch sei«, fuhr er fort. »Ich habe Ihnen hier schon mal ein bisschen was aus
meinem Stapel herausgesucht, was unter Umständen interessant für Sie sein
könnte.« Er setzte sich. »In den letzten zehn Jahren hat das Gebäude leer
gestanden. Mehr oder minder. Ab und an hat ein Obdachloser darin gewohnt und
nach dem Rechten geschaut.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Davor gab
es wechselnde Bewohner. Eine Zeit lang diente es als Unterkunft für Flüchtlinge
aus dem Balkankonflikt.« Er reichte Judith einige Kopien. Daten. Chronologisch
aufgeführt. Sie überflog sie.
»Das war so Mitte der
neunziger Jahre?«
»Ja. Das Anwesen war seit
dem letzten Krieg immer mehr oder minder eine Notunterkunft. Flüchtlinge,
Vertriebene, Asylsuchende.«
»In dem Artikel, den ich
gelesen habe, war als Baujahr 1892 angegeben. Das hat mir ein Mitarbeiter der
Stadt bestätigt.«
»Das stimmt auch. Es wurde
als kirchliche Anstalt für Jungen errichtet.«
»Also war es eine Schule
oder eine Art Erziehungsheim?«
»Ein Erziehungsheim. Oder,
um genau zu sein, eine Handwerkerbildungsanstalt.«
»Ist das etwas anderes?«
»Im Kontext schon.«
»Inwiefern?«
»Schauen Sie, der Begriff
›schwer erziehbar‹ wird heute anders definiert als zur Zeit der
Jahrhundertwende. Es gab ein sogenanntes Fürsorgegesetz, das 1901 in Kraft
trat. Demnach konnten Jugendliche ›zur Verhütung des völligen sittlichen
Verderbens‹ oder, um sie vor Verwahrlosung zu schützen, in Heime gesteckt
werden. Das ist oft politisch ausgenutzt worden. Aus damaliger Sicht wurden die
Jugendlichen schließlich auch von Gewerkschaftern verdorben.«
»Das heißt, es waren keine
Kleinkriminellen?«
»Nein. Jedenfalls nicht
alle. Wobei Sie auch nicht von einem Haufen Unschuldslämmer ausgehen dürfen.«
»Was haben die Jungen dort
gemacht?«
»Wie der Name schon sagt:
Sie wurden zu Handwerkern ausgebildet. Schreiner. Schlosser. Tischler.«
»Eine echte Chance.«
»Sicher. Aber das Ganze war
sicherlich kein Vergnügen.« Er blätterte in seinem Stapel und zog einige
weitere Papiere heraus. »Hier. Das können Sie mitnehmen. Ich hatte es für mich
ausgedruckt. Vielleicht hilft es Ihnen. Sehr interessant.« Er packte die
restlichen Unterlagen zusammen und stand auf. Ende der Audienz.
Judith überflog kurz die
Blätter. Deutsche Frakturschrift. Zwei Spalten. »Reichstag – 48. Sitzung,
Freitag, den 4. März 1910«, stand zuoberst. Sie blinzelte und versuchte, die
Buchstaben zu entziffern. Die schnörkeligen Buchstaben zu lesen, fiel ihr schwer.
»Vielen Dank.« Sie schob den
Stuhl zurück, stand ebenfalls auf und packte die Kopien ein. »Darf ich Sie
anrufen, wenn ich noch Fragen habe?«
»Immer doch.« Er lächelte.
»Es freut mich, wenn ich helfen kann.« Er begleitete sie die Treppe hinunter
bis zur Haustür. »Da fällt mir ein, diese Nägel, die könnten Ihnen vielleicht
etwas über das Alter der Kiste verraten.«
»Und wie?«
»Es ist nicht mein
Fachgebiet, aber ich könnte mir vorstellen, dass …« Er brach ab, hob beide
Hände in einer entschuldigenden Geste und lachte. »Man kann ja nicht alles
wissen. Und bevor ich Unsinn erzähle, fragen Sie besser im Freilichtmuseum in
Kommern nach. Die kennen sich mit so etwas bestens aus.«
Es dauerte fünf Minuten,
bis ihr erster Kontakt in der Zentrale den zuständigen Mitarbeiter erreicht
hatte und sie durchstellte. Die Verbindung war schlecht. Sie startete den Motor
und fuhr bis zum höchsten Punkt des Salzbergs hinauf. Besser.
»Können Sie mir sagen, ob es
eine Möglichkeit gibt, das Alter von Nägeln zu bestimmen?«, fragte sie den
freundlichen Herrn am anderen Ende der Leitung, nachdem sie sich vorgestellt
hatte.
»Nur schwierig. Sind sie
handgeschmiedet?«
Judith versuchte, sich an
den Bericht zu erinnern. Sie hatte nicht genau darauf geachtet, weil andere
Fakten im Vordergrund standen. »Ich denke ja.«
»Wissen Sie etwas über die
Materialzusammensetzung?«
»Noch nicht.«
»Wozu brauchen Sie die
Informationen?«
Sie erläuterte ihm die
Zusammenhänge.
»Mit den Nägeln wird das
schwierig, wie gesagt. Industriell hergestellte Nägel gibt es seit fast 200
Jahren. Selbst wenn sie handgeschmiedet sind, gibt es keine
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